Eine traditionelle Erklärung lautet, dass in Demokratien besonders viel umverteilt wird, weil politische Mehrheiten Beschlüsse fassen können, die zu Transfers von Minderheiten zu Mehrheiten führen. Je stärker ärmere Bevölkerungsschichten an Wahlen teilnehmen, umso stärker wird die Umverteilung ausfallen. *)
Tatsächlich sind die Zusammenhänge zwischen Demokratie und Umverteilung in theoretischer wie in empirischer Hinsicht sehr viel komplexer und alles andere als eindeutig. Ein wichtiger Grund, warum Verteilungsthemen wieder an Bedeutung gewinnen, liegt in der wachsenden Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in vielen westlichen Demokratien. Wir haben uns in FAZIT bereits mehrfach mit diesem Thema befasst – zum Beispiel hier und hier.
Heute weisen wir auf eine Arbeit der in diesem Blog schon häufiger zitierten Spitzenforscher Daron Acemoglu und James Robinson hin. (Hier ist ein eingängiger Beitrag aus ihrem Blog und hier eine eigene wissenschaftliche Arbeit, die sie anführen.)
Hier sind ihre Überlegungen, warum Demokratie nicht zwingend immer größere Umverteilung zur Folge haben muss:
1. Demokratien können in der Realität von Interessengruppen, zum Beispiel Eliten, gekapert werden, die in der Lage sind, Entscheidungen zu ihren Gunsten herbeizuführen.
2. Die Demokratie kann den wirtschaftlichen Handlungsspielraum vieler Menschen vergrößern, der zu einer höheren Ungleichheit der Einkommen führt. Das Argument ist, dass totalitäre Regime oft dazu tendieren, viele Menschen in wirtschaftlich wenig produktiven Tätigkeiten festzuhalten. (Man könnte etwa an die kollektivierte Landwirtschaft in der Sowjetunion denken.) Bricht ein solches Regime zusammen, können sich die bisher zwangsverpflichteten Menschen nach ihren Wünschen und Fertigkeiten freier betätigen, was wahrscheinlich zu einer größeren Ungleichheit der Einkommen führt. Acemoglu/Robinson sprechen von “Inequality-Increasing Market Opportunities”.
3. Man kann Gründe dafür anführen, warum nicht so sehr von den Reichen großflächig zu den Armen umverteilt wird, sondern nicht zuletzt von den Reichen und den Armen zugunsten der Mittelklasse. (In der Fachwelt ist von “Director’s Law” die Rede.)
Rein theoretisch lässt sich das Problem aber nicht lösen, man benötigt Empirie. Acemoglu/Robinson haben den vielen – und sehr widersprüchlichen – bereits existierenden empirischen Arbeiten eine weitere hinzugefügt und kommen bei einer Analyse vieler Länder in der Nachkriegszeit zu folgenden Ergebnissen:
1. Es gibt einen starken Hinweis darauf, dass eine Demokratie zu einem signifikant höheren Anteil der Steuereinnahmen am BIP führt.
2. Es gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass eine Demokratie den Zugang zu höherer Bildung erleichtert und schneller zu einem Aufbrechen segmentierter und ineffizienter Wirtschaftszweige führt.
3. Und jetzt kommt das Ergebnis, das zu den ersten beiden nicht zu passen scheint: Es gibt empirisch keinen überzeugenden Hinweis, dass Demokratie systematisch Ungleichheit deutlich verringert.
Das Fazit: “Overall, our results suggest that democracy does represent a real shift in political power away from elites and has first-order consequences for redistribution and government policy. But the impact of democracy on inequality may be more limited than one might have expected.”
Das Verteilungsthema wird uns wohl noch häufiger beschäftigen…
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*) Wer sich mit den theoretischen Hintergründen befassen möchte, kann sich das Medianwählermodell näher anschauen. Der Zusammenhang zwischen Wahlbeteiligung und Umverteilung wurde unter anderem von Meltzer/Richard erarbeitet; technisch gesprochen wird der Medianwähler mit einer wachsenden Wahlbeteiligung der ärmeren Bevölkerungsschichten immer ärmer.
Bisherige Beiträge aus der Reihe “Aktuelles aus der Verteilungsökonomik”:
Teil 1: Die Reichen werden wirklich immer reicher
Teil 2: Verursacht Ungleichheit Finanzkrisen?
Teil 3: Die Reichsten in historischer Perspektive