Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Was ist zeitgemäßer Liberalismus?

Über Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und ein gutes Leben. Karen Horn rezensiert Lisa Herzogs Buch "Freiheit gehört nicht nur den Reichen"

Mit dem Abdruck dieser Rezension wollen wir in FAZIT eine Diskussion über einen attraktiven Liberalismus in unserer Zeit eröffnen. In den kommenden Tagen werden wir eine Reaktion Lisa Herzogs auf den heutigen Beitrag veröffentlichen. (gb.)

 

Ein Beitrag von Karen Horn *)

In der Ukraine, in der Türkei, in Venezuela und anderen Ländern gehen die Menschen für die Freiheit auf die Straße. In den liberalen Demokratien des Westens hingegen hat der politische Liberalismus an Anziehungskraft verloren. Braucht es ihn hier nicht mehr, weil schon so viel erreicht ist? Oder liegt es daran, dass freiheitliche Botschaften mitunter auf den ersten Blick kompliziert und hartherzig wirken? Die Frankfurter Ökonomin und Philosophin Lisa Herzog hat eine andere Erklärung parat, die sich in ihrem ersten populärwissenschaftlichen, aber vor interdisziplinärer Belesenheit strotzenden Buch (“Freiheit gehört nicht nur den Reichen. Plädoyer für zeitgemäßen Liberalismus”) zur vernichtenden Kritik auswächst. So, wie der Liberalismus traditionell gedacht werde, als System zur Abwehr kollektiver, insbesondere staatlicher Willkür, sei er schlicht nicht zeitgemäß.

Die Autorin trifft einen Nerv, wenn sie die Alternative “Staat oder Markt” ins Zentrum ihrer Kritik stellt. Die Unterscheidung zwischen Konstruktivismus und spontaner Ordnung ist zwar nach wie vor unverzichtbar, wenn sich die Frage stellt, ob und wann der Staat tätig werden soll. Doch es ist platt und unergiebig, wenn “der Markt ausschließlich als Reich der Freiheit und der Staat ausschließlich als Reich von Zwang und Unterwerfung gesehen wird”, ohne dass die institutionelle Ausgestaltung Berücksichtigung findet. Keiner dieser gesellschaftlichen Regelkreise sei an sich perfekt, schreibt Herzog; vielmehr gelte es beide in eine gesunde Balance zu bringen. Gerade im Namen der Freiheit sei der Staat aufgerufen, den Markt zu ordnen und dessen Ergebnisse zu korrigieren. Darum gelte es ein auf den freien Markt verkürztes Freiheitsverständnis abzulegen und anstelle dessen das Recht “aller Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben als zentralen Wert der Moderne ernst zu nehmen”.

Das klingt vernünftig und nach Aufbruch, und in der Tat trifft Lisa Herzog mit den Schmerzpunkten des Liberalismus, die sie in ihrem Buch abarbeitet, genau ins Schwarze. Warum haben viele Liberale zu den Themen Klima und Umwelt so herzlich wenig zu sagen? Warum hat seit den Ordoliberalen sich niemand mehr mit dem Problem der privaten Macht beschäftigt? Weshalb schalten viele Liberale nur auf Abwehr, wenn sie darauf hingewiesen werden, dass es Menschen gibt, die Angst vor der Freiheit haben und zu Entscheidungen im eigenen Interesse kaum fähig sind? Wieso darf man mit vielen Liberalen über materielle Ungleichheit und “soziale Gerechtigkeit” nicht sprechen, ohne gleich das hermetische Verdikt Friedrich August von Hayeks um die Ohren geschlagen zu bekommen, der einzig sinnvolle Begriff von Gleichheit sei jene vor dem Gesetz, und Gerechtigkeit sei als Tugend keine für ein Kollektiv angemessene Kategorie? Solche Gesprächsverweigerung macht den Liberalismus nicht nur unsympathisch, sondern auch irrelevant. Hier muss sich dringend etwas ändern.

Die Autorin lädt dazu ein, die alte Debatte über das Verhältnis zwischen “negativer”, aus Abwehrrechten bestehender und “positiver”, die materiellen Möglichkeiten in den Blick nehmender Freiheit neu aufzurollen. Problematisch ist das Verhältnis zwischen beiden, weil die staatliche Herstellung gleicher Möglichkeiten praktisch Umverteilung bedeutet und damit automatisch das Abwehrrecht außer Kraft setzt.

Herzogs größtes, wichtiges, ganz und gar nicht einfaches Anliegen ist es, eine harmonische Balance von negativer und positiver Freiheit zu finden, ergänzt und stabilisiert noch durch die “republikanische Freiheit”, nach der sich der Mensch auf seinen Bürgerstatus als nicht nur dank hoheitlicher Gnade gewährtes, sondern fest gesichertes Recht verlassen kann. Das wäre dann ein “zeitgemäßer Liberalismus”. Doch leider kommt auch sie in dieser Sache nicht substantiell voran. Stattdessen treibt sie im Großteil des Buches diverse altbekannte Sauen aus der erbitterten sozialphilosophischen Debatte der vergangenen Jahre durch das liberale Dorf.

So arbeitet auch sie sich an der in der Tat psychologisch wertlosen und längst millionenfach dafür kritisierten Heuristik der Ökonomen ab, dem “Homo oeconomicus”. Zwar darf diese Annahme aus der Modellwelt, wonach der Mensch rationale Entscheidungen zur Maximierung seines eigenen Nutzens fällt, nicht als Menschenbild verstanden werden. Dennoch ist die Kritik berechtigt, und die Autorin trägt sie präzise vor. Doch wenn der Mensch nicht so berechnend und berechenbar ist, wie es simple Modelle unterstellen, dann sollte aus liberaler Sicht daraus ein Mehr an Demut folgen und keineswegs eine umso größere Anstrengung, das Verhalten der Individuen im Interesse desKollektivs zu manipulieren. Hierfür aber leistet die moderne Verhaltensökonomik Vorschub, für die Herzog begeistert eine Lanze bricht. Erst recht muss man den Kopf schütteln über das von Herzog bemühte, letztlich geringschätzige neomarxistische Narrativ à la Joseph Vogl, wonach das Paradigma sich seinen Menschen geschaffen hat. Angeblich hat die Denkfigur des rationalen Wirtschaftssubjekts das Denken, Fühlen, Sprechen und Tun der Menschen infiziert, hat zur Ökonomisierung aller Lebensbereiche geführt und ist schließlich in Überforderung und Entfremdung gemündet.

Es folgt noch mehr Ungemach, beispielsweise eine Rechtfertigung des angeblich “liberalen” Paternalismus und die Aufforderung, im Kollektiv grundsätzlich darüber nachzudenken, “wofür Märkte eigentlich sinnvoll sind”, ganz im Stil der jüngeren Mäßigungsliteratur von Michael Sandel oder Robert und Edward Skidelsky. Das Buch changiert merkwürdig zwischen solch unorigineller Wiederkäuerei und einer profunden Durchdringung der Materie. Wer ein dickes Fell hat, wird das Buch trotzdem mit Gewinn lesen und oft auch nachdenklich werden. Ein auf derart unausgegorenen, im Kern kollektivistischen Ideen aufbauender Liberalismus indes mag zeitgemäß sein, nur seinen Namen verdient er nicht mehr. Was Lisa Herzog als Aufbruch gedacht hat, gerät ihr zur Kapitulation.

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*) Karen Horn ist Vorsitzende der Friedrich A.von Hayek-Gesellschaft.

Dieser Text ist zuerst am 31. März 2014 im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.