Vor zwei Tagen haben wir eine Rezension des Buches “Freiheit gehört nicht nur den Reichen” aus der Feder Karen Horns veröffentlicht. Heute bringen wir eine Replik von Lisa Herzog. (gb.)
Wer hat Angst vor (welchem?) Kollektivismus?
Ein Beitrag von Lisa Herzog *)
“Im Kern kollektivistische Ideen” – mit diesem, wohl als Vorwurf gemeinten, Verdikt endet Karen Horns Rezension meines Buches Freiheit gehört nicht nur den Reichen, und ich nutze diese Gelegenheit, um einige meiner Überlegungen zu präzisieren. In mancher Hinsicht nämlich würde ich dieses Prädikat emphatisch bejahen – und wenn Karen Horn Angst vor dieser Form des Kollektivismus hat, bleibt ihr als Alternative nur der Glaube an eine quasi-metaphysische Qualität des freien Marktes als eine kosmische Ordnung, die alle Dinge zum Besten richten wird.
Im Fadenkreuz dieses Themenfelds liegt die Frage, woher das moderne, autonome Individuum eigentlich kommt, und wie es um seine Autonomie bestellt. Es gibt Liberale, die diese Frage als per se gefährlich zurückweisen würden, mit dem Argument: wenn man nicht sozusagen definitorisch festlegt, dass Menschen frei und rational sind, läuft man automatisch Gefahr, dem Liberalismus eine Bankrotterklärung auszustellen. In diesem Bild gleichen individuelle Akteure den Leibnizschen Monaden.
Reale Menschen dagegen leben in sozialen Gemeinschaft. Sie werden in bestimmte Kulturen hineinsozialisiert, und internalisieren die in ihnen vorherrschenden Normen. Die “vernünftige” Kontrolle dieser Einflüsse ist weit schwieriger, als es auf den ersten Blick scheinen mag, denn viele Einflüsse funktionieren subtil und entziehen sich bewusster Kontrolle. Aber das heißt nicht, dass ein selbstbestimmtes Leben nicht weiterhin ein Wert, vielleicht sogar der höchste Wert einer modernen Gesellschaft sein könnte. Nur ist es ein Wert, den wir uns sozusagen erarbeiten müssen, der der “natürlichen” – im Sinne von historisch dominanten – Form menschlichen Zusammenlebens geradezu abgerungen werden muss. Frei zu sein, bedeutet, sich dieser Einflüsse bewusst zu werden, und eine gewisse Distanz zu erreichen – und sich gegenseitig als freie Menschen ernst zu nehmen, als Individuen, die moralische Verantwortung übernehmen können, trotz all unserer menschlicher Schwächen, die wir durchaus aneinander und an uns selbst wahrnehmen können.
In diesem Sinne gilt: die Freiräume des modernen Individuums sind eine historische Errungenschaft. Sie zu erhalten, und möglichst zu erweitern, ist – ja! – eine kollektive Aufgabe. Auf die gute kosmische Ordnung, die ein Autor wie Adam Smith, stoisch und christlich beeinflusst, am Werk sah, können wir uns nicht verlassen. Stattdessen sind wir als Gesellschaft aufgefordert, gute Institutionen zu bauen und zu erhalten, in denen ein freies Leben stattfinden kann, und zwar für alle Mitglieder der Gesellschaft. Zentral sind und bleiben dabei die klassischen Freiheitsrechte, die den Einzelnen vor willkürlichen Eingriffen des Staates schützen, aber auch ein gewisses Maß an sozialer Absicherung und das Recht auf politische und gesellschaftliche Teilhabe.
In den westlichen Demokratien können wir uns glücklich schätzen, über zahlreiche derartige Institutionen zu verfügen, die sich zu einem komplexen Gebilde zusammenfügen, in denen unsere Freiheiten mehr oder weniger gut gesichert sind. An diesem Gebilde weiterzuarbeiten, es zu verbessern, und einsturzgefährdete Elemente neu aufzurichten, ist laufende Aufgabe einer liberalen Gesellschaft. Sowohl Bereiche, in denen “spontane Ordnung” vorherrscht, als auch Bereiche, in denen geplant und gemeinschaftlich entschieden wird, spielen dabei eine Rolle.
Die heilige Kuh vieler Liberaler freilich ist “der” Markt, der so frei wie möglich sein möge. Dabei klingt die Rede vom Markt manchmal so, als gäbe es von Natur aus ein Ideal des Marktes, das per se moralisch wertvoll sei, dem sich reale Märkte aber bedauerlicherweise nie vollständig annähern würden. Doch diese Vorstellung vom “natürlichen” Marktprozess ist eine Chimäre. Damit sich Märkte so verhalten, wie es die Vorstellung vom “freien” Markt nahelegt, braucht es eine Vielzahl formeller und informeller Institutionen, von Eigentumsrechten über Kartellbehörden bis hin zu Normen, die für Informationssymmetrie sorgen und der generellen Bereitschaft der Marktteilnehmer, sich an Recht und Gesetz zu halten.
Genau dies war die Einsicht des Ordoliberalismus (oder auch “Neoliberalismus” in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes von 1938) gegenüber dem “klassischen” Liberalismus. Diese Institutionen müssen kollektiv (!) geschaffen und erhalten werden – bitte mit demokratischer und rechtsstaatlicher Kontrolle! – und durch sie können Märkte sehr unterschiedlich gestaltet werden (was dann auch bedeutet: die Art und Weise, wie Märkte Individuen beeinflussen, kann sehr unterschiedlich aussehen). Dabei ist keineswegs gesagt, dass eine stärkere Annäherung an das Lehrbuch-Ideal des Marktes bestmöglich dazu dient, ein selbstbestimmtes Leben für alle Bürger zu ermöglichen. Wir brauchen Debatten darüber, welche Form der Wirtschaft wir eigentlich wollen – zum Beispiel in Bezug darauf, wie sich monetäres Einkommen und Zeitsouveränität der Einzelnen zueinander verhalten, von der Frage nach Umweltverträglichkeit ganz zu schweigen.
Für diese Debatte wollte ich in meinem Buch Denkanstöße geben, ohne konkrete Politikvorschläge zu machen – nicht nur, weil dies den Rahmen gesprengt hätte, sondern auch, weil es in einer liberalen Gesellschaft nicht die Aufgabe von Philosophen (oder Ökonomen!), sondern die aller Individuen ist, diese Fragen zu stellen und konkrete Lösungen zu finden.
—————————————————————————————————
*) Lisa Herzog arbeitet am Institut für Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt.