Die Demokratie in China funktioniert prächtig, freie Märkte sind gefährlich und Regierungsbeamte in aller Regel vertrauenswürdig. Das zumindest glauben die meisten chinesischen Jugendlichen, wenn sie die Schule verlassen. An sich ist das keine Überraschung, denn es hat in China eine lange Tradition, das Klassenzimmer als Raum politischer Indoktrination zu missbrauchen. Eine neue Studie eines internationalen Forscherteams zeigt nun aber, wie gezielt Regierungen durch veränderte Lehrpläne die politischen und wirtschaftlichen Ansichten von Schülern prägen können. Etwa jeder fünfte Student, der eigentlich nicht die von der chinesischen Regierung gewünschten Ansichten teilt, änderte seine Ansichten wegen eines veränderten Lehrplans, schätzen die Autoren der Studie “Curriculum and Ideology”.
Um den Einfluss staatlich diktierten Unterrichts zu identifizieren, untersuchte ein fünfköpfiges Forscherteam, wie sich ein zu Beginn des Jahrtausends neu eingeführter Lehrplan ausgewirkt hat. Den Ökonomen aus Peking, München, Stanford, Berkeley und Hongkong spielte in die Karten, dass die neuen Pläne in den chinesischen Provinzen in verschiedenen Jahren ins Klassenzimmer Einzug hielten. Als die Forscher später an der Universität Peking 2000 Hochschulbewerber aus 29 Landesteilen befragten, hatte nur ein Teil in der Schule nach den neuen Lehrplänen gelernt. So ließ sich der Effekt isolieren, den die Lehrpläne hatten. So ein natürliches Experiment ermöglicht besondere Einblicke. Denn wenn sich Ökonomen, Soziologen oder Historiker sonst mit Ideologie im Klassenzimmer befassen – zum Beispiel mit dem Schulunterricht in der Zeit des Nationalsozialismus -, können sie häufig nicht eindeutig bestimmen, ob sich Einstellungen tatsächlich wegen neuer Lehrpläne gewandelt haben oder ob sie auf die veränderten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse zurückgehen. Mit ihrer Methode, so sind die Autoren überzeugt, sind sie in der Lage, “kausale Effekte” zu zeigen.
Es sei nicht von vorneherein ausgemacht, dass politische Indoktrination im China des 21. Jahrhunderts funktioniere, sagen die Autoren. Einerseits verbringen Kinder in der Volksrepublik viel Zeit in der Schule, sie sind also zumindest an den öffentlichen Schulen einer staatlichen Dauerberieselung ausgesetzt. Andererseits hätten Schüler und Studenten jedoch die Möglichkeit, im Internet Inhalte zu konsumieren, die der Regierungsmeinung widersprechen. Dieses Wissen könne zu Skepsis bei den Schülern und zur Ablehnung des offiziellen Lernstoffs führen.
Doch die empirischen Ergebnisse sprechen gegen diesen Internet-Effekt. Denn fast alle untersuchten Änderungen in den Schulbüchern schlugen sich auf die politische Meinung der Schüler nieder. Erklärtes Ziel der im Jahr 2001 begonnenen Reform war es, “bei den Schülern eine korrekte Weltsicht zu formen, einen korrekten Blick auf das Leben und ein korrektes Wertesystem”. Aus dem Bemühen der Einflussnahme wird kein Geheimnis gemacht. So zitieren die Ökonomen den Autor eines Schulbuchs für das Fach Politik: “Das Politikbuch zu schreiben ist viel mehr ein Vorgang auf staatlicher Ebene als eine akademische Aktivität eines einzelnen Autors.” An anderer Stelle heißt es, die Sozialisation der jungen Menschen sei eine wichtige und notwendige strategische Aufgabe, den Sozialismus sollten sie lieben.
Eine konkrete Veränderung des Lehrplans für Schüler der zehnten bis zwölften Klasse betrifft die Darstellung des freien Marktes. Ein kompletter Abschnitt, in dem eine Marktökonomie mit erstaunlich positiven Attributen bedacht worden war (gleich, gerecht, offen, wettbewerblich), sei gestrichen worden. Stattdessen werde im neuen Lehrbuch die Bedeutung des Staates in einer “sozialistischen Marktökonomie” wieder viel stärker in den Mittelpunkt gestellt. Eine besondere Rolle spielen dabei Staatsunternehmen. “So wie Pfeiler Wolkenkratzer stützen, so bilden Staatsunternehmen das Rückgrat der chinesischen Wirtschaft”, heißt es im neuen Schulbuch. Die von chinesischen Offiziellen gefürchtete soziale Ungleichheit wird dagegen mit freien Märkten in Zusammenhang gebracht: Wird dem Markt alleine die Verteilung der Ressourcen überlassen, könne das zu Chaos und unfairer Verteilung führen. Diese Darstellung hat langfristige Folgen: Als die Ökonomen die ehemaligen Schüler fragten, ob sie die Marktwirtschaft anderen ökonomischen System vorziehen, äußerten sich signifikant mehr Schüler skeptisch, die unter dem neuen Lehrplan und von entsprechend geschulten Lehrern unterrichtet worden waren.
Ein anderer Teil der Reform bestand darin, den Schülern die Legimität der chinesischen Regierung und deren offizieller Beamten zu vermitteln, die – so das Schulbuch – auf rechtsstaatliche Prinzipien zurückgeht. Auch dieses Vorhaben ist gelungen. Hochschulbewerber, denen diese Prinzipien eingetrichtert wurden, vertrauten Regierungsvertretern und öffentlichen Einrichtungen stärker. Den lokalen Politikern attestierten diese jungen Chinesen, weniger von ihren eigenen Interessen oder reichen und mächtigen Personen gesteuert zu sein. Das Vertrauen in Nichtregierungsorganisationen nahm hingegen nicht zu.
Änderungen im Lehrplan sorgten laut Studie zudem dafür, dass die Jugendlichen stärker daran glaubten, dass China demokratisch ist und einfache Bürger Einfluss darauf haben, wer in ihrer Stadt politisch das Sagen hat. Gestärkt wurde zudem die Ansicht, das neben den Vertretern der Kommunistischen Partei auch wichtige Personen aus der Privatwirtschaft eine Rolle in der chinesischen Politik spielen sollen.
Erfolglos blieb hingegen der Versuch, bei den Schülern das Bewusstsein für Umwelt und Naturschutz zu schärfen. “Vielleicht weil dies als gegensätzlich zum Wirtschaftswachstum gesehen wird – einer anderen wichtigen Regierungspriorität”, vermuten die Autoren.