Der transatlantische Freihandelspakt TTIP ist an zweierlei gescheitert. Das eine Problem war Amerikas Präsident Barack Obama. Er begann seine Präsidentschaft 2009 als Freihandelsskeptiker und erkannte erst spät den Wert von Handelsverträgen, um sich einen Platz im Geschichtsbuch zu sichern. Hätte Obama früher Druck gemacht, hätte TTIP eine realistischere Chance gehabt. Das größere Problem war die europäische und speziell die deutsche Seite.
TTIP sollte Investitionsschutzklauseln umfassen, mit denen ausländische Investoren sich vor internationalen privaten Schiedsgerichten gegen Benachteiligungen und Enteignungen hätten wehren können. Dagegen regte sich drastischer Widerstand vor allem in Deutschland, und der Freihandelspakt sank auf das Sterbelager. Das Hauptargument seiner Gegner: Ein demokratischer Staat hat es nicht nötig, seine Souveränität aufzugeben, um sich von Unternehmen vor Sondergerichten verklagen zu lassen. Es reicht, wenn Unternehmen sich vor Gericht innerhalb des demokratischen Gemeinwesens gegen politische Willkür wehren dürfen.
Warum unterwerfen Demokratien sich Schiedsgsrichten?
Das hört sich plausibel an, muss es aber nicht unbedingt sein. Doch ganz unabhängig davon gibt es ein Paradox: Demokratische Staaten standen in den vergangenen Jahren an der Speerspitze der Bewegung, ausländische Direktinvestitionen durch Investitionsschutzklauseln und Schiedsgerichte abzusichern. Das überrascht. Die Ratio hinter den Schutzklauseln ist, dass Länder mit schwacher Rechtsstaatlichkeit ausländischen Investoren Rechtsschutz garantieren. Man denke an Entwicklungsländer, an Despoten oder korrupte Regime. Der Mut ausländischer Kapitalgeber, in solchen Ländern das Investorenglück zu suchen, bedarf der Stärkung. Die Möglichkeit, im Notfall vor ein privates Schiedsgericht ziehen zu können, wirkt da wie eine Absicherung. Indem es sich vorab dem Schiedsregime unterwirft, bindet sich das Gastland, das Investitionen anziehen möchte, die Hände. Es sichert besonders zu, ausländische Investoren nicht zu diskriminieren oder gar zu enteignen.
Dieses Prinzip der Selbstbindung ist in der deutschen Tradition der Ordnungspolitik und in der Historie fest verankert. Odysseus ließ sich an den Mast seines Schiffes binden, um dem Gesang der Sirenen nicht zu erliegen und nicht vom Kurs abzukommen. Gewählte Politiker überlassen geldpolitische Entscheidungen unabhängigen Fachleuten in den Notenbanken, um sich vor der Versuchung zu schützen, die Geldpolitik wahltaktisch zu missbrauchen. Auch der normale Bürger kennt solche Formen der Selbstbindung. Wer abnehmen und nächtlichen Fressattacken vorbeugen will, achtet darauf, dass keine Schokolade im Haus vorhanden ist.
Aufräumen mit Vorurteilen
Doch wird generell vermutet, dass Demokratien mit einem stabilen Rechtsschutz dieser Sicherung durch Schiedsgerichte nicht bedürfen. Es ist deshalb erklärungsbedürftig, warum gerade Demokratien sich auf solche Selbstbindungen eingelassen haben. In einem guten Überblick kommt der Kieler Ökonom Peter Nunnenkamp zum Schluss, dass weder Politologen noch Ökonomen dafür eine kluge Erklärung geben können. Womöglich steckt dahinter die Erwartung, dass man ohnehin nur verspricht, was man durch die Rechtsstaatlichkeit im Innern schon zugesichert hat. Vielleicht ist es der Versuch, als Vorbild auch Investorenschutz von eher willkürlichen politischen Systemen einfordern zu können. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass manche Demokratien aus Sicht eines ausländischen Investors gar nicht so stabil sind, wie sie wirken, und deshalb ein zusätzliches Schutzversprechen durchaus angebracht ist. Wenn selbst in der Europäischen Union Bedenken an der Rechtsstaatlichkeit in manchen östlichen Mitgliedsländern existieren, kann man es Amerikanern oder Kanadiern verdenken, wenn sie Freihandel mit der EU nur mit Investorenschutz haben wollen?
Das Schöne an den Arbeiten Nunnenkamps zu den Schiedsgerichten ist, dass er mit klarem Blick auf die verfügbaren Daten über Klagen vor internationalen Schiedsgerichten mit diversen Vorurteilen aufräumt. Unternehmen haben unfaire Vorteile gegenüber Staaten? Eine Schieflage der Schiedsurteile zu Lasten der Staaten lässt sich nicht nachweisen. Sind arme Entwicklungs- oder Schwellenländer benachteiligt? Auch sie gewinnen vor Schiedsgerichten häufiger als die klagenden Unternehmen.
Vattenfall und der Missbrauch
Das klügste Argument gegen den Investorenschutz vor Schiedsgerichten ist wohl, dass ausländische Investoren damit mehr Schutzrechte vor politischem Missbrauch eingeräumt bekommen als inländische Unternehmen. Diese können nur im Inland klagen, ausländische Investoren dagegen sowohl im Inland als auch vor den Schiedsgerichten. Man kann darin eine ordnungspolitisch unsaubere Bevorzugung sehen, die in diesem Fall vielleicht durch besondere Risiken der Auslandsinvestitionen gerechtfertigt ist. Man kann aber auch fragen, ob all das überhaupt so viel Aufregung wert ist.
Der deutsche Bürgerwiderstand gegen Schiedsgerichte und Investitionsschutzklauseln speist sich zu einem guten Teil aus dem Nein zur Kernenergie. Als Musterbeispiel für den Missbrauch der Schiedsgerichte wird nämlich gewöhnlich Vattenfall genannt. Das schwedische Energieunternehmen hat sich erdreistet, Deutschland wegen des Atomausstiegs vor einem internationalen Schiedsgericht zu belangen.
Die Vorgeschichte: 2010 hatte die Bundesregierung von Union und FDP den zuvor von Rot-Grün beschlossenen Atomausstieg auf die lange Bank geschoben und die Restlaufzeiten für die Atomkraftwerke deutlich verlängert. Dann kam 2011 die Tsunami-Katastrophe in Japan, die zur Kernschmelze im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi führte. Mehr oder weniger über Nacht vollzog die Bundeskanzlerin eine Kehrtwende und setzte den Atomausstieg wieder in Kraft. Gegen diese kaum rational zu begründende Wackelpolitik wendete Vattenfall sich 2012 und verlangte eine Entschädigung. Aber war das wirklich ein Missbrauch? Im vergangenen Dezember entschied das Bundesverfassungsgericht in einem parallel dazu laufenden Verfahren, dass Eon, RWE und auch Vattenfall eine Entschädigung zustehe, weil ihre Investitionen durch die plötzliche Energiewende zur Fehlinvestition wurden.
Peter Nunnenkamp (2016): Demokratie und internationale Investitionsabkommen: (Überraschende) Zusammenhänge und (lückenhafte) Erklärungen. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Band 17/4, S. 364-382.
Peter Nunnenkamp (2016): Streitschlichtung im Rahmen internationaler Investitionsschutzabkommen. Viel Lärm um (fast) nichts? Kiel Working Paper Nr. 2053, Oktober 2016, Institut für Weltwirtschaft.
Dieser Text erschien am 23. April als „Sonntagsökonom” in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
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