Kaum ein ökonomisches Phänomen ist in den vergangenen Jahrzehnten so häufig für tot erklärt worden wie die Austauschbeziehung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit. Auch jetzt sind die Totengräber wieder unterwegs. In der Vergangenheit lagen sie immer falsch.
In der Kommunikation führender Zentralbanken wie der Fed oder der EZB taucht immer wieder die Überzeugung auf, dass mit der Kräftigung des Wirtschaftswachstums und der damit einhergehenden Besserung am Arbeitsmarkt früher oder später die Löhne und dann auch die Inflationsrate kräftiger steigen werden. Dieser Zusammenhang wird durch die sogenannte Phillips-Kurve beschrieben, deren Frühgeschichte wir dieser Tage in einem anderen Beitrag vorgestellt hatten. Der Zuversicht der Zentralbanken hält ein Chor von Skeptikern entgegen, daraus werde nichts, denn die Phillips-Kurve sei tot. Was ist davon zu halten?
Moderne Geldpolitik
Man könnte zunächst die Frage stellen: Wen kümmert es, ob die Phillips-Kurve lebt oder tot ist? Die Antwort lautet: Für die Geldpolitik ist dies von großem Interesse, weil die moderne Geldpolitik auf der modernen makroökonomischen Theorie aufbaut und die Phillips-Kurve in der modernen makroökonomischen Mainstream-Theorie eine wesentliche Rolle spielt. Denn auch wenn sich moderne makroökonomische Modelle in vielerlei Weise unterscheiden mögen, so ruhen sie gewöhnlich auf drei Säulen:
- Das gesamtwirtschaftliche Angebot ist eine Funktion des Realzinses sowie der erwarteten künftigen Produktion.
- Die Zentralbank orientiert sich an einer Zinsregel, die sich an der erwarteten Abweichungen der Inflation und des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von ihren Zielwerten ausrichtet. (“Taylor-Regel”)
- Die Inflation ergibt sich aus der erwarteten Inflation und der Abweichung des tatsächlichen BIP von dem im Optimalfall möglichen BIP.
Die dritte Säule ist eine moderne Darstellung der Phillips-Kurve, in der die Inflation unter anderem beeinflusst wird vom BIP, das wiederum beeinflusst wird durch die Lage am Arbeitsmarkt. Insofern findet sich auch in der modernen Interpretation der Phillips-Kurve indirekt der Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit.1)
Moderne Geldpolitik beruht in diesen Modellen darauf, durch die Wahl eines geeigneten Zinsniveaus eine niedrige Inflationsrate zu erreichen, bei der die Wirtschaft ansehnlich wächst. Bräche der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Inflationsrate zusammen, verlöre in dieser Modellwelt die Zentralbank die Kontrolle über die Inflationsrate. Daraus folgte nicht, dass Geldpolitik überflüssig oder sinnlos wäre, aber sie bedürfte eines anderen intellektuellen Fundaments. Wer in die Geschichte schaut, wird unschwer erkennen, dass Zentralbanken lange Zeit existierten, ohne dass man auf die Idee gekommen wäre, sie mit der Kontrolle der Inflationsrate zu beauftragen. Aber das ist lange her.
Fragen nach dem Zusammenhang von Inflation und Arbeitslosigkeit stellen sich vor allem in Ländern, in denen die Wirtschaft seit Jahren ansehnlich wächst und die Arbeitslosenquote im historischen Vergleich niedrig ist. Das gilt für die Vereinigten Staaten und für Deutschland, wo manche Experten seit Jahren eine deutlich steigende Inflationsrate voraussagen, aber nichts dergleichen geschieht.
In ihrer Kommunikation gehen die Zentralbanken davon aus, dass der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation nicht grundsätzlich gestört ist, sondern dass die Inflationsrate mit Verzögerung noch steigen wird. (Eine ausführliche Untersuchung aus der EZB findet sich hier.) Aber in der Welt der Ökonomen mehren sich die Stimmen, die dies nicht mehr erwarten, sondern die These vertreten, dass der Zusammenhang nicht mehr existiert. Die Phillips-Kurve sei tot, sagen sie.
Todesursachen
Welche Argumente bringen die Vertreter der Ansicht, die Phillips-Kurve existiere nicht mehr?
Gehen wir an den Anfang des Textes zu den Fundamenten moderner makroökonomischer Modelle zurück: Hier erklärt sich die Inflation aus der erwarteten Inflation sowie der wirtschaftlichen Lage, wobei implizit in dem Modell die These steckt, dass kräftiges Wirtschaftswachstum mit steigenden Löhnen einhergeht.
Eine Argumentation lautet nun, dass in der heutigen Welt eine gute Wirtschaftslage nicht mehr mit Lohndruck einhergeht und daher die Inflation ausbleibt. Dafür werden mehrere, zum Teil miteinander verbundene Gründe genannt:
- Gewerkschaften haben in den Industrienationen an Einfluss verloren. Das hängt zum Teil mit dem Wandel von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft zusammen.
- Die Demographie hält neben dem Realzins auch die Inflation niedrig.
- Die digitale Revolution erleichtert es, menschliche Arbeitsplätze zu ersetzen.
- Viele hochqualifizierte Menschen haben kein Interesse, ihren Spielraum für Gehaltserhöhungen auszureizen, wenn sie dafür ihre Arbeitsbedingungen individualisieren können (z.B. mehr Home-Office).
- Die Globalisierung hält Lohnsteigerungen in den Industrienationen auf mehrerlei Weise zurück – zum Beispiel durch Konkurrenz aus Schwellenländern, durch den Bezug von Vorleistungen durch Schwellenländer oder durch ein zusätzliches Arbeitsangebot durch Migration.
Ein anderer Argumentationsstrang zielt darauf ab, dass die Zentralbanken in gewisser Weise ein Opfer ihres eigenen Erfolges geworden sind: Die Menschen erwarten so nachhaltig weiterhin sehr niedrige Inflationsraten, dass diese Erwartungen dazu beitragen, die Inflation künftig niedrig zu halten.
Etwas Empirie
Vorausgeschickt sei: Die Zeiten, in denen eine “naive” Interpretation der Phillips-Kurve existierte, nach der die Politik zwischen verschiedenen Kombinationen von Inflation und Arbeitslosigkeit wählen könne, sind lange vorüber. Die Phillips-Kurve gilt schon lange als ein unzuverlässiger Geselle.
Aktuelle empirische Untersuchungen sind widersprüchlich. Eine vielzitierte Studie aus den Vereinigten Staaten sieht in den vergangenen Jahrzehnten keine Möglichkeit mehr, die Inflationsentwicklung aus der Phillips-Kurve abzuleiten. Andere Studien sehen beispielsweise für Deutschland und Europa immer noch Phillips-Kurven am Werk (hier und hier), auch wenn in manchen der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation schwächer geworden zu sein scheint (in diesem Fall wird die Phillips-Kurve flacher). Eine Betrachtung Großbritanniens legt die Vermutung nahe, dass sich die Phillips-Kurve im Laufe der Jahre verschoben haben könnte.
Was folgt daraus?
Unser historischer Artikel über die Phillips-Kurve hatte eine Twitter-Debatte mit mehreren Ökonomen angeregt. Drei Stellungnahmen scheinen besonders von Interesse: Rüdiger Bachmann (University of Notre Dame) warnte vor Versuchen, das Konzept wirtschaftspolitisch simpel ausbeuten zu wollen und er verwies auf die Tatsache, dass die empirischen Ergebnisse von der Wahl der Beobachtungszeiträume und der Beobachtungsobjekte (man setzt wahlweise die Inflationsrate oder die Lohnentwicklung ins Verhältnis zur Arbeitslosenquote, zu anderen Arbeitsmarktindikatoren oder zur gesamtwirtschaftlichen Produktionslücke) abhängen und sehr unterschiedlich ausfallen können. Hier im FAZIT-Blog hat Volker Caspari (TU Darmstadt) daran erinnert, dass eine Todeserklärung der Phillips-Kurve gleichbedeutend wäre mit der These, es existierte keine gesamtwirtschaftliche Angebotskurve. Wiederum auf Twitter hat Christian Bayer (Universität Bonn) davor gewarnt, aus ernüchternden empirischen Untersuchungen zur Phillips-Kurve den Schluss zu ziehen, der zugrundeliegende angebotstheoretische Zusammenhang existiere nicht mehr.
Dem würden wir uns in aller Unbescheidenheit anschließen. Die Phillips-Kurve ist schon oft totgesagt worden und es stimmt, dass man auf ihrer Basis keine simplen wirtschaftspolitischen Entscheidungen treffen kann. Daher mag es für Zentralbanken notwendig sein, ihr theoretisches Arsenal auf den Prüfstand zu stellen, zumal einige Gründe, die derzeit die Inflationsrate niedrig halten, noch längere Zeit wirken könnten. Aber daraus folgt in keiner Weise, dass die Phillips-Kurve endgültig tot sein muss.
- Dadurch, dass die aktuelle Inflation aber auch durch erwartete Inflation erklärt wird, spielen Erwartungseffekte eine Rolle, deren Fehlen Milton Friedman in alten Versionen der Phillips-Kurve bemängelt hatte.
Die Phillips-Kurve lebt in Europa
Das sagen zumindest Ökonomen aus der Banque de France in einer neuen Arbeit:
https://publications.banque-france.fr/la-courbe-de-phillips-existe-t-elle-encore?utm_source=&utm_medium=&utm_campaign=
Gruß
gb
Etwas für Spezialisten: Eine langfristige Phillips-Kurve mit Finanzfriktionen
Brunnermeier/Sannikov haben vor rund zwei Jahren in einem theoretischen Papier gezeigt, wie im Falle nicht-perfekter Finanzmärkte Inflation langfristig das Wirtschaftswachstum beeinflussen kann. Als politische Folgerung schließen sie daraus, dass Schwellen- und Entwicklungsländer wegen weniger gut entwickelter Finanzmärkte eine etwas höhere Inflationsrate vertragen können als Industrienationen.
https://scholar.princeton.edu/markus/publications/optimal-inflation-rate
Gruß
gb
Schumpeter “revisited “...
Schumpeter ,ein einzigartiger Mensch und Wissenschaftler,und wie sich seine Ideen sich theoretisch-„opportunistisch“ instrumentalisieren/brauchen dürfen ,ein Exempel sei ein Artikel : »
L’essor des rentes de monopoles nuit à la croissance « ,Le Monde Économie,16/17.12.2017!
Fehlt da nicht ein Kriterium?
Wir leben in Zeiten einer virtuellen Revolution. Ihr ist es eigen, dass man sie nicht gleich sieht, wie Maschinen, dafür kann man sie dabeihaben, wie Handys. Die Entwicklung und die Produkte dieser Revolution verursachen Kosten, für jeden einzelnen Markteilnehmer, der sie haben will oder muss. Auch das unterscheidet diese Revolution von der industriellen. Maschinen konnte nicht jeder gleich gebrauchen. Erwirbt ein Marktteilnehmer ein Produkt, gibt er Geld aus. Ist das Produkt für ihn teuer, gibt er nach seinen Verhältnissen viel Geld für ein solches Produkt aus. Er wird woanders sparen. Wenn nun in einer Volkswirtschaft viele Marktteilnehmer jeweils viel Geld für eine Produktsparte ausgeben, die zudem ggfls so teuer nicht verkauft werden müsste, weil etwa erheblich billiger produziert, oder die Gewinnerwartung aufgrund der Marktnachfrage hoch sein kann, könnte sich dahinter eine Inflation verstecken? Wenn dem so sein sollte, wäre das diesbezügliche Überangebot an Geld im Verhältnis zum (Sparten-)Produktangebot durch Zinsregelungen nur über hohe Darlehnszinsen erreichbar. Zudem könnte der Eindruck einer florienden Wirtschaft durch hohe Produktabsatzzahlen entstehen. Und noch eines: 450.- Eurojobs und etwa berufliche Qualifizierungsmaßnahme durch Jobcenter kennzeichnen ebenfalls Arbeitslosigkeit. Denn, wer maßgeblich staatliche Mittel zur Sicherung seines Lebensunterhalt erhält, kann sich von selbstgenerierten Einnahmen am Markt eben nicht unterhalten. Schließlich: Hohe Produktivität und Produktion sowie Umsätze und Gewinne erwirtschaftet von Computerrobotern besagen nichts über die Beschäftigungsrelation.
Das Konzept stammt aus der Zeit schnell wachsender Volkswirtschaften,
als Lohnforderungen und Zinskeule Hase und Igel spielten. Der alte Zusammenhang gilt zwar grundsätzlich, verliert in saturierten, alternden Gesellschaften aber an Bedeutung. Sie haben die Gründe genannt. M.E. fehlt noch die Zinspolitik der EZB als indirekter Faktor. Die Geldflut sorgt quasi und u. A. für Vollbeschäftigung zum Billigtarif, zumindest bei uns.
"Quick and dirty"
Phillips bezeichnete seine berühmte Arbeit über Löhne und Arbeitslosigkeit als “quick and dirty” und “done in a weekend”:
https://economics.uwo.ca/people/laidler_docs/phillips.pdf
Das waren noch Zeiten…
Gruß
gb
Auskennen und schätzen Lernen...
Ein derartiges Paper ,voller Sympathie,die Eigenart einer Savant -Phillips- betonendes ,verständlich,niemals „freie“ Interpretation ,hat mir gut getan .
Ganz was anderes wie manchmal heutige wirtschaftswissenschaftliche eingeengtere Art und Weise, so zusagen nur für „riverains“.
Auch in Neuseeland...
Auch am anderen Ende der Welt tut man sich aktuell mit der Phillips-Kurve schwer:
https://www.newsroom.co.nz/2017/12/06/66109/the-reserve-bank-is-losing-its-lodestar
(Herr Phillips, nach dem die Phillips-Kurve benannt ist, war übrigens Neuseeländer, auch wenn er seine berühmte Kurve auf der Basis britischer Daten erstellte.)
Gruß
gb