Die Europäische Zentralbank ist 20 Jahre alt geworden. Ein Überblicksartikel zweier Ökonomen gibt Anlass zu der Frage, wie sich ihre geldpolitische Strategie entwickelt hat.
Zwei hochrangige Ökonomen aus der EZB, Philipp Hartmann und Frank Smets, haben dieser Tage auf einer renommierten Konferenz in den Vereinigten Staaten die ersten 20 Jahre Revue passieren lassen. Wir interessieren uns heute ausschließlich für ihre Behandlung der geldpolitischen Strategie der EZB. Ihr Überblick ist lehrreich, aber auch unvollständig.
Von 1998 bis 2002
Als die EZB vor zwei Jahrzehnten ihre Arbeit aufnahm, stand sie vor großen Herausforderungen. Die junge Institution benötigte eine Strategie, die es ihr erlauben würde, glaubwürdig ihr Ziel der Stabilität des Preisniveaus zu verfolgen. Und sie musste Rücksicht auf die unterschiedlichen Traditionen der bisher national in der Eurozone betriebenen Geldpolitik nehmen. Otmar Issing, der deutsche Chefvolkswirt der EZB von 1998 bis 2006, hat häufig geschildert, dass alleine mit Blick auf die unterschiedlichen Traditionen und daraus entstehenden nationalen Differenzen in der Abgrenzung und Erhebung monetärer Daten die Anwendung der bisher von der Deutschen Bundesbank verwendete Geldmengenpolitik nicht in Frage kam – zur großen Überraschung von EZB-Präsident Wim Duisenberg. In Tat und Wahrheit war puristische Geldmengenpolitik im Jahre 1998 längst eine Kuriosität mit fragwürdigem Fundament in Theorie und Empirie. Auch die Bundesbank hatte ihre Geldmengenpolitik nicht puristisch, sondern pragmatisch betrieben.
Issings ureigene Leistung war die Entwicklung der sogenannten “Zwei-Säulen-Strategie”, auf deren Basis geldpolitische Entscheidungen getroffen werden sollten. Zum einen gab es die “wirtschaftliche Säule”, bei der, in Anlehnung an damals moderne amerikanische und heute weit verbreitete Vorstellungen, die Geldpolitik im wesentlichen anhand der Konjunkturentwicklung betrachtet werden sollte. Daneben gab es die sogenannte “monetäre Säule”, bei der im wesentlichen die Entwicklung der Geldmenge Beachtung fand. Die “Zwei-Säulen-Strategie” war ein pragmatischer Kompromiss, der unterschiedliche ökonomische Schulen unter einem Dach vereinen wollte.
Mit diesem Kompromiss reagierte Issing auf die Schwierigkeit zeitgenössischer ökonomischer Theoretiker, Entwicklungen in der Geldsphäre in realwirtschaftliche Modelle zu integrieren. Geld war wichtig für die Geldpolitik, aber die Gewichtung der einzelnen Säulen war nicht ganz eindeutig, wie eine Äußerung Duisenbergs zeigte: “… it is not a coincidence that I have used the words that money will play a prominent role. So if you call it the two pillars, one pillar is thicker than the other is, or stronger than the other, but how much I couldn’t tell you.” Mit der “prominenten Rolle” für die Geldmenge wurde unter anderem versucht, aus der Bundesbank-Tradition stammende Glaubwürdigkeit auf die EZB zu übertragen.
Daneben definierte die EZB im Jahre 1998 ihr Ziel der Preisstabilität: “Price stability shall be defined as a year-on-year increase in the Harmonised Index of Consumer Prices (HICP) for the euro area of below 2%.” Genau quantifiziert war das Inflationsziel damit nicht, aber Duisenberg machte in einer Rede deutlich, dass Abweichungen vom Ziel nach oben wie nach unten gleichermaßen als Verfehlungen zu werten sind. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt: Heute finden sie deutsche Kritiker der EZB, die behaupten, ein Inflationsziel von 2 Prozent wäre eine Obergrenze und es wäre nur schlimm, wenn die Inflationsrate über dem Ziel liege. Das stimmt nicht: Das Inflationsziel der EZB war von Anfang an ein symmetrisches. Wichtig auch: Das Inflationsziel galt als ein mittelfristig zu erreichendes Ziel. Kurzfristige Abweichungen durften toleriert werden.
Von 2003 bis 2007
Diese Strategie erfuhr im Jahre 2003, also zu einer Zeit, als Issing noch Chefvolkswirt der EZB war, erste Überarbeitungen. Sie betrafen zum einen das Inflationsziel von bisher “unter 2 Prozent”. Seit der Gründung der EZB hatte es angesichts weltweit fallender Inflationsraten international Debatten gegeben, wie sich die Geldpolitik gegen die Gefahren einer Deflation wappnen sollte. Eine – bis heute dominierende – Idee lautete: Das Inflationsziel der Geldpolitik muss einen gewissen Abstand zu Null haben, damit die Geldpolitik, die Inflation nicht bis hinter die Kommastelle steuern kann, nicht versehentlich eine Wirtschaft in eine Deflation abgleiten lässt. Damit würde auch verhindert, so dachte man damals, dass der Leitzins bis auf Null oder gar unter Null zurückgenommen werden müsste. Damals lagen die Leitzinsen in der Eurozone, in Japan und in den Vereinigten Staaten in einem schmalen Band zwischen 0 und 2 Prozent.
Aus diesen Überlegungen entstand das bis heute gültige EZB-Inflationsziel von “unter, aber nahe 2 Prozent auf mittlere Sicht”. Wiederum muss man betonen, dass manche Zeitgenossen heute den Eindruck erwecken, das aktuelle Inflationsziel sei Bestandteil einer südeuropäischen Verschwörung zulasten der Deutschen. Das ist schlichtweg Unsinn. Issing stellte heraus, dass die Überarbeitung des Inflationsziels in 2003 nicht als Abkehr vom alten Inflationsziel verstanden werden sollte: “This “close to 2 percent” is not a change, it is a clarification of what we have done so far, what we have achieved – namely inflation expectations remaining in a narrow range of between roughly 1.7 and 1.9% – and what we intend to do in our forward-looking monetary policy”.
Die zweite Überarbeitung betraf die “monetäre Säule”, die sich nunmehr breiter definierte und nicht alleine auf die Betrachtung der Geldmenge fokussierte, sondern auch unter anderem die Kreditentwicklung und die Liquiditätssituation der Wirtschaft betrachtete. In diese Zeit fallen auch Überlegungen, inwieweit die Geldpolitik eine Rolle für die Bewahrung der Finanzstabilität spielen sollte – ein sehr modernes Thema. Deutlich wurde aber zugleich, und dies besonders auf dem Symposium anlässlich des Abschieds Otmar Issings im Jahre 2006, dass die “prominente Rolle” der Geldmenge für die Strategie der EZB Geschichte wurde.
Vielmehr orientierte sich die Strategie zunehmend an den Erkenntnissen, die sich aus der “wirtschaftlichen Säule” ableiten ließen und die Erkenntnisse aus der “monetären Säule” wurden zunehmend zu einem “cross-check” aus langfristiger Sicht. Damit bewegte man sich de facto in Richtung der in der englischsprachigen Welt dominierenden Auffassung von Geldpolitik, die monetäre Größen nicht mehr ernstnahm. Vizepräsident Lucas Papademos brachte auf dem Symposium die Hoffnung zum Ausdruck, dass es bald möglich sein würde, im Rahmen einer umfassenderen Theorie die beiden Säulen zu einer zu verschmelzen.
Issing hatte den Trend weg von den monetären Größen zu verlangsamen, aber nicht aufzuhalten vermocht, und sein Nachfolger Jürgen Stark konnte den Trend nicht mehr umzukehren. Zum einen ging die Wissenschaft in eine andere Richtung, zum zweiten besaß Stark in der Volkswirtschaftlichen Abteilung der EZB kein so großes Prestige wie Issing und zum dritten brach bald die Finanzkrise aus, die die Geldpolitik in unbekanntes Terrain und zu allerlei kurzfristigem Handeln brachte. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, dass Stark und Papademos im Jahre 2010 umfangreiche Betrachtungen zur monetären Analyse herausgaben, die auch aus heutiger Sicht noch von Interesse sind.
Seit 2007
In der Arbeit von Hartmann/Smets spielen die ereignisreichen Jahre ab 2007 – erst die Finanzkrise, dann die Eurokrise – eine prominente Rolle, aber nicht der Blick auf die grundlegende Strategie, was den Eindruck erweckt, diese habe sich nicht verändert. Immerhin verweisen sie darauf, dass ab dem Jahr 2013 die Steuerung der Erwartungen der Wirtschaftsteilnehmer durch Kommunikation (“Forward Guidance”) eine größere Rolle zu spielen begann. Das war ein internationaler Trend, dem sich die EZB anschloss.
Die größere Bedeutung der Forward Guidance war ein weiterer Schritt, der die EZB von einer urspünglich der Bundesbank-Tradition verhafteten Institution zu einer Instititution machte, die sich dem globalen Trend zu Zentralbanken anschloss, deren Geldpolitik der modernen amerikanisch geprägten makroökonomischen Theorie folgte. In FAZIT haben wir dies bereits vor fast vier Jahren in einem Beitrag beschrieben (“Boston gegen die Bundesbank”). In Deutschland findet sich die Ansicht, die EZB wäre in den vergangenen Jahren südeuropäisch geworden. Dies ist falsch: Die EZB ist in den vergangenen Jahren amerikanisch geworden. Ihre Geldpolitik entspricht dem globalen geldpolitischen Mainstream, wie Issing in einem Gespräch mit der F.A.Z. bemerkte.
Issings Zwei-Säulen-Strategie ist immer noch offiziell die geldpolitische Konzeption der EZB und Mario Draghi verweist auf seinen monatlichen Pressekonferenzen bei der Beschreibung der Wirtschaftslage immer auch auf die Entwicklung der Geldmenge. Hin und wieder findet sie sich auch in Reden des seit 2012 amtierenden Chefvolkswirts Peter Praet. In der Praxis spielt die Zwei-Säulen-Strategie keine Rolle mehr, wie sich aus Äußerungen des im Frühjahr 2018 ausgeschiedenen Vizepräsidenten Vitor Constancio ergibt. In einer Rede im Mai 2018 sagt Constancio in aller Deutlichkeit: “The ECB made the journey from a central bank still under the partial influence of the simple monetary aggregates approach, to join the community of central banks of other major jurisdictions using flexible inflation targeting regimes and asset purchases as non-standard measures… In sum, the ECB is now a modern, effective and prepared central bank to serve the goals of monetary union.”
Was bleibt von Issings Erbe in der EZB? Sehr viel, wenn man das Ziel der EZB, nämlich die Stabilität des Güterpreisniveaus anschaut. Alle vor allem in Deutschland geäußerten Befürchtungen vor hohen Inflationsraten – sei es vor dem Euro, sei es nach Ausbruch der Finanzkrise, sei es nach Ausbruch der Eurokrise, sei es beim Beginn des Anleihekaufprogramms – haben sich ausnahmslos als falsch erwiesen. Issings tiefe Überzeugung, dass die Bedingungen in der monetären Sphäre in der Definition der Geldpolitik Berücksichtigung finden sollten, wird von vielen Ökonomen geteilt.
Wie dies in der Praxis aussehen soll, ist allerdings eine Aufgabe, deren Lösung heute nicht leicht fällt. Es existiert weder eine in der Fachwelt breit akzeptierte Theorie, die Geldwirtschaft und Realwirtschaft miteinander verbindet noch existiert eine weithin akzeptierte geldpolitische Regel, die Issings beiden Säulen gerecht wird. Hier bedarf es noch vieler Arbeiten. In welche Richtung aktuelle Forschungen zielen, wollen wir in einem späteren Beitrag behandeln. Issings Anliegen bleibt von hoher Wichtigkeit.
AKTUALISIERUNG 19. SEPTEMBER 2018: Otmar Issing nimmt zu dem obigen Beitrag Stellung:
“Otmar Issing: Einige Anmerkungen
- Es ist einerseits richtig, dass mein Vorschlag einer Zwei-Säulen-Strategie ein Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Positionen im Governing Council war – was die einhellige Annahme weentlich erleichterte. Andererseits war ich davon überzeugt – und bin es immer noch -, dass dieser Ansatz anderen Strategien überlegen war. Ich habe mich im Rat ausdrücklich gegen ein Geldmengenziel gewandt. Als Hauptgrund habe ich auf den mit dem Übergang von den nationalen Währungen verbundenen Regimewechsel verwiesen. Die Lucas Kritik lässt grüßen. Auf der anderen Seite halte ich eine Geldpolitik für mehr als problematisch, welche die monetäre Entwicklung einfach ignoriert. Hierbei ist anzumerken, dass die monetäre Säule von Anfang an nicht auf die Beobachtung von M3 beschränkt war, sondern auch den „Gegenposten“ Kredit einbezogen hat. Dieser Ansatz wurde dann sehr bald weiterentwickelt. Der von Papademos und Stark herausgegebene Band „Enhancing Monetary Analysis“ gibt einen hervorragenden Überblick. Es ist bezeichnend, dass diese Arbeiten in der angelsächsisch geprägten Notenbankwelt schlichtweg ignoriert wurden. In vielen Diskussuionen mit meinen internationalen Kollege habe ich sie –ohne großen Erfoög – nach ihrer Kritik an unserer Strategie gefragt. Dabei habe ich immer betont, dass ich die Strategie nicht als der Weisheit letzter Schluß ansehe – aber „Geld und Kredit“ einfach zu ignorieren, kann doch für eine Notenbank keine Option sein. Die fatalen Mängel des Inflation Targeting haben aus meiner Sicht wesentlich zu einer Entwicklung beigetragen, die dann zur globalen Finanzmarktkrise 2007/8 führte. Dazu wäre sehr viel mehr zu sagen. Ich verweise auf meine Mayekawa Lecture bei der Bank of Japan.
- Zur EZB Strategie gehört auch: Gegen erheblichen Widerstand habe ich durchgesetzt, dass sich die EZB auf eine numerische Zielvorgabe „unter 2%“ verpflichtet hat. Diese Defintion von Preisstabilität gilt bis heute, sie wurde bei der Überprüfung der Strategie 2003 – entgegen zahlreichen Äußerungen, selbst aus der EZB – nicht geändert. Den Hinweis, die Geldpolitik sei „close to 2““ zu führen, habe ich von Anfang für problematisch gehalten. Die Formulierung passt nicht zur mittelfristigen Orientierung der Geldpolitik und stellt einen Anspruch, den die Geldpolitik gar nicht erfüllen kann. Ich verweise nur auf die letzten Jahre.
- Schließlich nur ein kurzer Kommentar zur Rede von Vitor Constancio. Der Autor präsentiert eine Karikatur der Zwei-Säulen-Strategie, die sich dann leicht als rückständig diffamieren lässt. Wenn die EZB jetzt endlich auf dem „Niveau“ der anderen großen Notenbanken angekommen ist, finde ich das als Rückschritt und für die Stabilität bedrohlich.
In dieser Kürze liegt die Gefahr von Missverständnissen, dessen bin ich mir bewußt. Ich möchte hier nur darauf verweisen, dass ich mit meinen Kollege schon sehr früh „Monetary Policy in the Euro Area“ (2001!) eine ausführliche wissenschaftliche Begründung unserer Strategie veröffentlicht habe. Welche Notenbank kann auf ähnliches verweisen?”