Es war eine eigenartige Bitte, die das schwedische Möbelhaus Ikea da erreichte: Ein italienischer Lokalpolitiker aus der Provinz Chieti (Abruzzen) wollte wissen, wie es denn nun um die Bewerbungen von vier Personen steht, die er namentlich aufgelistet hatte. Die Frage war auf offiziellem Briefpapier niedergeschrieben und höflich formuliert. Doch die unausgesprochene Aufforderung war unmissverständlich: Stellt nicht irgendwen ein, sondern die Personen, die mir nahe stehen! So jedenfalls interpretierten es die Manager der Möbelkette, die auf den Brief des Amtsträgers öffentlich antworteten: Man wähle Mitarbeiter ausschließlich danach aus, ob sie geeignet seien. Vergleichbare Bitten bekäme der Konzern immer wieder, wenn neue Geschäfte eröffnet werden – nicht nur von Politikern, sondern auch von Bankmanagern und Priestern. Natürlich lehne man das immer ab.
Natürlich? So natürlich ist das gar nicht. Denn Vetternwirtschaft, und es geht um nichts anderes hier, ist nicht totzukriegen. Nicht in Afrika, nicht in Lateinamerika und auch nicht in Deutschland und anderen Industrieländern. Überall landen Verwandte und Freunde einflussreicher Personen auf Posten und in Gehaltsklassen, die für sie sonst unerreichbar gewesen wären. Wer kennt nicht jemanden, bei dem es nicht zumindest den Verdacht der Günstlingswirtschaft gibt?
So weit das Phänomen verbreitet ist, so schwierig ist es, das Ausmaß zu beziffern. Dabei wäre das die Voraussetzung, um die für die gesamte Volkswirtschaft schädliche Praxis gezielt bekämpfen zu können. Zwei Forschern ist nun ein wichtiger Schritt bei der Vermessung der Vetternwirtschaft in Italien gelungen, also ausgerechnet in einem Land, das für Nepotismus und Korruption besonders berüchtigt ist. “Das ist etwas, von dem Italiener wissen, dass es passiert”, sagt Stefano Gagliarducci (Universität Rom) zu seiner Studie, die er gemeinsam mit Marco Manacorda (Queen Mary Universität London) kürzlich in einer hochangesehenen amerikanischen Fachzeitschrift veröffentlicht hat. In der Untersuchung kommen sie zu dem Schluss: Wenn ein Politiker ein Amt gewinnt, profitieren seine in der Privatwirtschaft beschäftigten Familienmitglieder finanziell erheblich.
Um der Vetternwirtschaft auf die Schliche zu kommen, werteten die beiden Ökonomen Daten der Sozialversicherungen, die unter anderem Angaben zu den Löhnen enthalten, für den Zeitraum zwischen 1985 und 2011 aus. Durch den Vergleich von Nachnamen und Wohnorten identifizierten sie mögliche Verwandtschaftsverhältnisse zu Amtsträgern auf allen föderalen Ebenen, bis in die Kommunalpolitik. Die Forscher gestehen ein, dass dieses Verfahren nicht zu einhundert Prozent treffsicher ist. Allerdings seien die italienischen Nachnamen oft sehr speziell und damit eher einer bestimmten Familie zuzuordnen als anderswo. Sie seien deshalb zuversichtlich, mit ihrer aufwendigen Datenrecherche tatsächliche Verwandtschaftsverhältnisse identifiziert zu haben.
Das Ergebnis spricht jedenfalls Bände. Sobald ein Politiker ein neues Amt ergatterte, stiegen die Einkommen seiner Verwandten in Privatunternehmen im Schnitt um 10 000 Euro im Jahr. Auch die Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe nahm den Berechnungen zufolge ab. 0,4 Prozent der gesamten Beschäftigung in Italien gingen auf die familiäre Vetternwirtschaft zurück, schreiben die Wissenschaftler. Und diese Zahl umfasst nur die Familienangehörigen. Nehme man auch Freunde und Bekannte dazu, sei die Zahl wohl noch viel größer.
Der naheliegende Verdacht der Ökonomen: Die Unternehmen, die in Italien besonders unter einer überbordenden Bürokratie leiden, erkaufen sich durch den Nepotismus schnellere Entscheidungen und politisches Wohlwollen. Die Politiker ihrerseits lassen sich durch die Zusatzzahlungen an ihre Verwandten ihren Job vergolden. In den Daten stießen die Forscher darauf, dass der Effekt ausgeprägter war, je größer die Budgets waren, die den Politikern zur Verfügung standen. Das spricht dafür, dass hinter der Sache tatsächlich System steckt.
Wirtschaftlich ist die Vetternwirtschaft ein Bremsklotz. Wenn Menschen nur wegen ihrer Verwandten Karriere machen, kann das in den Unternehmen talentierte Mitarbeiter frustrieren, die nicht wie erhofft vorankommen. Die Praxis könne zudem das Vertrauen in Institutionen und die Produktivität der Wirtschaft schmälern, warnen die Autoren.
Warum aber lassen die Unternehmen den Politikern nicht direkt Schmiergelder zukommen, um sie für die eigenen Zwecke einzuspannen, sondern gehen den Umweg über die Familie? Auch diese Frage lassen die Forscher nicht unbeantwortet. Ihre Vermutung: Seit der Aktion “mani pulite” – zu Deutsch “saubere Hände” – sei solch plumpe Bestechung in Italien deutlich schwerer durchzuziehen.
Anfang der neunziger Jahre hatten juristische Ermittlungen eine damals weitverbreitete Korruptionspraxis im politischen System aufgedeckt. Die Ermittlungen ließen schließlich die alte Parteienlandschaft zusammenbrechen und fegten zahlreiche Politiker aus ihren Ämtern. Mailand, die Wirtschaftsmetropole, erwarb sich in jener Zeit den unschönen Beinamen “Stadt der Schmiergelder”. Die Günstlingswirtschaft, die Gagliarducci und Manacorda nun ans Licht bringen, ist nach ihren Worten ein “Substitut, möglicherweise eine untergeordnete Form der direkten Korruption”.
Ein Rezept, was die Konsequenzen aus ihren Untersuchungen sein sollten, liefern die Forscher gleich mit. “Gesetze zu verschärfen ist nicht genug”, schreiben sie. Stattdessen müssten die Anreize reduziert werden, überhaupt zu dieser indirekten Form der Korruption zu greifen. Der Schlüssel dafür sei, “maßlose Bürokratie” abzubauen. Sie mache die Günstlingswirtschaft überhaupt erst lohnenswert. Wenn Anträge auch so zügig bearbeitet würden und Termine nicht erst in Monaten zu bekommen wären – wer muss dann noch zu fragwürdigen Maßnahmen greifen?
Zur Ehrenrettung der Italiener sei gesagt, dass sie in Korruptionsstatistiken westlicher Länder zwar hintere Plätze belegen, Vetternwirtschaft gibt es aber nicht nur dort. Selbst im “sauberen” Schweden stießen Forscher auf Indizien für Nepotismus. Und als Deutscher muss man erst recht nicht mit dem Finger auf andere zeigen: Die Verwandtenäffäre im Bayerischen Landtag ist noch in bester Erinnerung. Dutzende Abgeordnete, vorwiegend aus der CSU, hatten dort Familienmitglieder auf Staatskosten beschäftigt.