Jeder will systemrelevant sein. Aber ohne wen geht im Land tatsächlich nichts?
Systemrelevant will jeder sein, denn so viel hat sich herumgesprochen: Wer dieses Etikett hat, der hat es besser. In der Finanzkrise begann das: Die Banken galten als systemrelevant, darum wurden viele vom Staat vor der Pleite gerettet. In der Corona-Pandemie waren es Ärztinnen und Krankenpfleger, Supermarkt-Mitarbeiter, Altenpfleger und so weiter. Mehr Geld gab es in diesem Fall nicht für jeden, aber allein die Notbetreuung für Kinder von systemrelevanten Mitarbeitern hat dazu geführt, dass der Status recht begehrt war.
Die Angestellten im Gesundheitssystem reichten aber nicht. Schnell stellte sich heraus: In der arbeitsteiligen Welt sind ziemlich viele unterschiedliche Menschen nötig, um das Land am Laufen zu halten. Die Liste der systemrelevanten Berufe jedenfalls wuchs immer weiter: die Müllabfuhr gehörte dazu, Lastwagenfahrer, Wasserwerker und IT-Experten. Für die hat niemand geklatscht? Schade.
Systemrelevanz hat wenig mit Popularität zu tun
Doch für die Systemrelevanz ist erst mal nicht wichtig, welche Berufe besonders populär sind. Wenn Fachleute über Systemrelevanz reden, dann geht es um eine simple Frage: Welche Arbeiten müssen weitergehen, weil sie Schlüsselleistungen fürs gesamte Land bereitstellen, ohne die alles andere zusammenbricht? Dabei ist es egal, ob die Tätigkeit warme Gefühle weckt und ob sie als sinnstiftend oder altruistisch gilt. Deshalb galten Banken schon immer als systemrelevant: Ohne sie stockt der Geldverkehr, die Unternehmen kommen nicht mehr an ihr Geld, viele gehen pleite. Einerlei, ob man Banker mag oder nicht – wenn der Staat die Banken nicht rettet, hat er hinterher noch weniger Geld für all die wünschenswerten Ausgaben. Selbst wenn die Bankenrettung also Milliarden kostet, ist das gut angelegtes Geld, das noch größere Verluste verhindert. So ging das Argument.
Und wenn jetzt die zweite Corona-Welle kommt – welche Branchen sind dann die wichtigsten? Das ist wichtig zu wissen, wenn im Herbst möglicherweise neue Einschränkungen des Lebens und der Arbeit drohen. Zum Glück hat sich über den Sommer ein Ökonomenteam ans Werk gemacht, um diese Frage zu untersuchen. Es besteht vor allem aus Mitarbeitern des an die Bundesagentur für Arbeit angeschlossenen Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und der Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung. Dabei ist zum Beispiel der Arbeitsmarktforscher Enzo Weber. Sie haben Daten des statistischen Bundesamtes analysiert, um festzustellen, wie die einzelnen Branchen miteinander verflochten sind.
Ihre erste Frage: Für welches System sollen die Arbeiten überhaupt relevant sein? Sind die Branchen wichtig, die besonders viele Vorprodukte an andere Unternehmen liefern, deren Ausfall also die Arbeit anderswo behindert? Oder sind die Branchen wichtig, die besonders viele Vorleistungen aus anderen Unternehmen bekommen und dort für Pleiten sorgen können? Oder aber sind die Branchen wichtig, deren Probleme besonders viele Arbeitsplätze gefährden? Die Fragen hören damit noch nicht auf. Insgesamt legen die Forscher elf verschiedene Kriterien dafür an, was Systemrelevanz sein kann.
Ohne Logistiker bricht alles zusammen
Wichtig ist zum Beispiel die Versorgung anderer Unternehmen: Wenn der Müller ausfällt, hat der Bäcker kein Mehl zum Backen, und im Supermarkt liegt am Ende kein Brot. Dieser Gedanke liegt nahe. Es gibt aber Branchen, die noch entscheidender sind als der Müller und der Bäcker, wie die Analyse der Ökonomen zeigt: Am wichtigsten von allem sind die Handels- und Logistikbranche. Großhändler, Supermärkte, Lagerei und so weiter – diejenigen also, die die Verteilung von Waren organisieren. Wenn die ein Problem haben, bewegt sich in Deutschland nur noch wenig. Ebenfalls weit oben stehen Branchen, die mit Immobilien zu tun haben, die IT-Dienstleister – und, ja, auch die unbeliebten Banken sind wichtig. Dabei sind den Deutschen nur wenige dieser Branchen in den Sinn gekommen, als man im Frühling über Systemrelevanz nachdachte. Aber es ist ja wahr: Auch die Krankenschwestern können ihre Arbeit nur dann gut machen, wenn ihnen jemand Medikamente ans Krankenhaus liefert und wenn ihnen jemand die IT-Probleme löst. Es sind solche Branchen, ohne die praktisch niemand sonst arbeiten kann.
Das war eine Betrachtung für die unmittelbare Pandemie, in der das Überleben organisiert werden muss. Es gibt aber noch andere Perspektiven, zum Beispiel: Welche Branchen sind wichtig, damit Deutschlands Wohlstand langfristig erhalten bleibt? Wessen Schwierigkeiten bringen besonders viele Arbeitsplätze in Gefahr? Für diese Fragen reichten die Daten des Statistischen Bundesamtes nicht aus. Die Ökonomen brauchten zudem Modelle dafür, wie sich Preise und Beschäftigtenzahlen entwickeln.
Kellner und Künstler sind auch systemrelevant
Die Ergebnisse sind eine Überraschung. Die meisten Arbeitsplätze sind abhängig von „sonstigen Unternehmensdienstleistungen“ – eine muntere Mischung von Sicherheitsdiensten, Sekretariatsdienstleistern und anderen Branchen. Wenn die für eine Milliarde Euro weniger arbeiten, dann sind rund 35.000 Stellen gefährdet. Der Grund: Diese Berufe lassen sich kaum ersetzen. Wenn sie ausfallen, dann trifft das alle Branchen. Die Preise steigen, und die Menschen haben weniger Geld für anderes übrig; also gehen überall Arbeitsplätze verloren, so schätzen es die Ökonomen.
Dicht dahinter kommen die Künstler und das Gastgewerbe, zwei Branchen, in denen sehr schnell sehr viele Arbeitsplätze verlorengehen, weil dort in guten Zeiten sehr personalintensiv gearbeitet wird– und zwei Branchen, die von der Corona-Krise besonders betroffen sind. In diesem Sinn zeigen die Ökonomen also, dass auch Künstler und Kellner systemrelevant sind, zumindest wenn es um die langfristige Zukunft der Arbeitsplätze in Deutschland geht.
Und was ist mit der Autoindustrie, die ja als besonders wichtig für Deutschlands Wohlstand gilt und deren Strukturwandel in diesen Tagen zu vielen Entlassungen führt? Die Autoindustrie taucht in diesen Tabellen auch auf, allerdings nicht immer ganz oben. So viel lässt sich sagen: Probleme in der Autoindustrie kosten weniger Arbeitsplätze als in anderen Branchen. Pro verlorener Milliarde an Wertschöpfung in der Autoindustrie gehen insgesamt rund 10000 Arbeitsplätze verloren, wenn auch relativ gut bezahlte. Wahr ist: Probleme der Autoindustrie belasten relativ schnell auch ihre Zulieferer und andere Branchen. Wahr ist aber auch: In der Branche wird nicht sehr personalintensiv gearbeitet. Die Gastronomie hat dreimal so viele Mitarbeiter wie die Autoindustrie, also sind von den Schwierigkeiten der Kfz-Bauer erst mal nur relativ wenige Menschen betroffen.
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