Manche Ökonomen behaupten, eine auf Verschuldung beruhende Finanzpolitik stoße auf wenige Grenzen. Diese Annahme beruht wesentlich auf der Beobachtung, dass sich die Verzinsung von Staatsanleihen unterhalb der Rate des Wirtschaftswachstums bewegt. Der bekannte Makroökonom Ricardo Reis hat nun Wasser in den Wein gegossen. Viele Träume der Expansionisten haben nichts mit der Realität zu tun.
Die Begründung dafür, dass in der heutigen Welt die Finanzpolitik auf weniger Grenzen stößt als früher, haben wir in der F.A.Z. und in FAZIT (zum Beispiel hier) mehrfach beschrieben. Kurz zusammengefasst lautet sie so: Wenn die Verzinsung von Staatsanleihen unter der Rate des Wirtschaftswachstums liegt, richtet eine hohe Zunahme des Bestands an Staatsschulden, wie er in der aktuellen Krise vielerorts zu beobachten ist, keinen dauerhaften Schaden an, weil sich der Anteil der Verschuldung an der Wirtschaftsleistung (BIP) im Laufe der Zeit reduziert: Die Wirtschaft wächst aus ihren Schulden heraus.
Eine Situation, in der sich der Zins unterhalb der Wachstumsrate bewegt (Ökonomen sprechen von einer Situation, in der “r kleiner g” ist mit r als Zins und g als Rate des Wirtschaftswachstums), wird als “dynamische Ineffizienz” bezeichnet. Gegen diese (vermeintlich) neue Sicht sind allerlei Einwände vorgebracht worden, die wir ebenfalls schon behandelt haben. So wurde in Deutschland kontrovers diskutiert, ob eine Situation “dynamischer Ineffizienz” überhaupt mit einer Marktwirtschaft vereinbar ist. Ein weiterer Einwand besagt: Selbst wenn die Verzinsung der Staatsanleihen heute unter der Rate des Wirtschaftswachstums liegt, muss das nicht so bleiben. Die Verhältnisse können sich auch umkehren. Diese Einwände interessieren uns an dieser Stelle aber nicht.
Denn: Wie Ricardo Reis gerade gezeigt hat, unterliegt die staatliche Schuldenaufnahme auch dann Beschränkungen, wenn die Verzinsung der Staatsanleihen unter der Wachstumsrate der Wirtschaft liegt. Die simple Rechnung der Expansionisten geht nicht auf, denn ihr Rechenwerk ist unvollständig.
Der Grund ist nicht unbekannt: Staatsanleihen sind nicht die einzige Anlageform. Es existieren auch andere Anlageformen, zum Beispiel in Gestalt von Eigenkapital. Und egal ob man die Rendite von Eigenkapital anhand des Aktienmarktes misst oder anhand der Analyse von Unternehmensbilanzen: Immer zeigt sich einerseits, dass in den vergangenen Jahrzehnten zwar neben der Verzinsung der Staatsanleihen und der Rate des Wirtschaftswachstums auch die Rendite des Eigenkapitals gesunken ist.
Aber, und darauf kommt es an: Die Rendite des Eigenkapitals, die wir mit Reis mit dem Buchstaben m abkürzen wollen, liegt andererseits immer noch über der Wachstumsrate der Wirtschaft. Damit gelten zwei Beziehungen:
- Die Verzinsung sicherer Staatsanleihen ist niedriger als die Rate des Wirtschaftswachstums (r kleiner g)
- Die Rendite des Eigenkapitals ist höher als das Wirtschaftswachstum (m größer g)
Reis zeigt nun anhand eines theoretischen Modells, wie sich der Spielraum der Finanzpolitik durch die Betrachtung der beiden Beziehungen ergibt und nicht nur aus einer Betrachtung der ersten (r kleiner g). Tatsächlich ist es so, dass sich aus der zweiten Beziehung (m größer g) eine Beschränkung des Spielraums der Finanzpolitik herleiten kann. “Bevor man zu begeistert darüber ist, was man tun kann, sollte man sich bewusst sein, was man nicht tun kann”, warnte Reis in einer virtuellen Veranstaltung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ).
Denn Sparer sind in einem Modell mit zwei Anlageformen nicht gezwungen, Staatsanleihen zu halten; sie können auch in riskanteres und illiquideres, aber auch potentiell besser rentierliches Eigenkapital anlegen. Und dann ist nicht mehr sicher, dass der Staat seine Anleihen zu sehr niedrigen Zinsen plazieren kann. “Die Staatsverschuldung kann nicht höher sein als die gesamten Anlagen”, sagt Reis. “Irgend jemand muss die Anlagen halten.”
Das ist nicht das einzige Problem der Expansionisten: Die drei Größen r (Verzinsung der Staatsanleihen), g (Rate des Wirtschaftswachstums) und m (Rendite des Eigenkapitals) sind nicht unabhängig voneinander, sie beeinflussen sich gegenseitig. Wenn die Staatsanleihen nicht zur Finanzierung ähnlich rentabler Projekte verwendet werden wie private Investitionsfinanzierungen, leidet darunter das Wirtschaftswachstum (g) – und damit langfristig die Verschuldungsfähigkeit des Staates. Auch der Entwicklungsgrad eines Finanzsystems spielt eine Rolle: In einem Land mit unterentwickelten Finanzmärkten wird die Neigung zu sicheren Kapitalanlagen größer sein, vor allem, wenn der Zugang zu riskanteren Anlagen nicht so einfach ist.
Reis hat aus seinem theoretischen Modell Schlussfolgerungen für die Politik gezogen, die zum Teil etwas überraschen mögen:
- Umverteilungspolitik reduziert das Verschuldungspotential eines Landes. Linke Politik kann nicht beides haben – sie kann entweder umverteilen oder versuchen, sich großzügig zu verschulden. Wer beides versucht, riskiert die Stabilität der Staatsfinanzen. Sehr erstaunlich ist das Ergebnis nicht – man denke etwa an das Frankreich der frühen Jahre der Präsidentschaft Mitterrand: Nach wenigen Jahren der Exzesse musste eine Linksregierung Austeritätspolitik betreiben, weil ihr die Staatsfinanzen um die Ohren zu fliegen drohten.
- Steuersenkungen finanzieren sich – überraschenderweise (?) – von selbst, wenn der Zins unter der Rate des Wirtschaftswachstums liegt. Reis zeigt dies anhand einer proportionalen Senkung der Einkommensteuer. Dieses Ergebnis wird linken Ökonomen und Politikern gar nicht gefallen.
- Für die Geldpolitik gilt: Unsicherheit über die künftige Inflationsrate reduziert den Spielraum der Finanzpolitik, weil diese Unsicherheit an der Sicherheit der Anlage in Staatsanleihen nagt. Dieses Ergebnis sollte wenig überraschen. Insofern ist eine stabilitätsorientierte Geldpolitik kein Hinderungsgrund für die Finanzpolitik, eine nicht primär an der Geldwertstabilität ausgerichtete Politik aber schon. Das bedeutet aber auch, dass eine Politik des Weginflationierens der Staatsschulden der Finanzpolitik nicht hilft, sondern ihre Tragfähigkeit riskiert.
- Die große Verlockung für die Politik besteht in “Finanzieller Repression” – also Regulierungen, die Anleger zwingen, Staatsanleihen in einem eigentlich unerwünschten Volumen zu halten. Kurzfristig richtet eine solche Politik vielleicht keinen großen Schaden an, und deshalb mag sie attraktiv sein. Aber auf längere Sicht reduziert eine ineffiziente Kapitalallokation das Wachstumspotential einer Wirtschaft. Der Schaden kommt, aber er kommt mit Verzögerung.
Auch die Analyse von Reis belegt, was so offensichtlich ist: Die Logik einer langfristig sehr expansiven, auf Schulden beruhenden Finanzpolitik ist mehr als fragwürdig. Plädoyers beispielsweise für die Abschaffung der Schuldenbremse sind weniger begründet, als ihre Anhänger behaupten. John Maynard Keynes hat gegen Ende seines Lebens bei mehreren Gelegenheiten davor gewarnt, “ewige Wahrheiten” der traditionellen Volkswirtschaftslehre zu bestreiten. Zu diesen Wahrheiten gehört, dass die Finanzierung von Staatsausgaben durch Verschuldung an Grenzen stößt.