Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Ausbeutung der Anleger

Staaten kennen einen Trick, sich von ihren Schulden zu befreien: Finanzielle Repression. Er könnte wieder in Mode kommen. Von Winand von Petersdorff

Staatsschulden der reichen Länder haben es noch nicht wieder richtig auf die politische Agenda geschafft. Aber man wird sich wohl mit ihnen befassen müssen – über kurz oder lang. Vor allem mit der Frage, wie man sie wieder loswird. Die überparteilichen Rechnungsprüfer des amerikanischen Kongresses rechnen damit, dass die Staatsschulden dieses Jahr 100 Prozent der Wirtschaftsleistung erreichen und binnen der nächsten zehn Jahre einen Nachkriegsrekord aufstellen. In 30 Jahren klettert das Staatsschuldenniveau auf 200 Prozent. Dabei sind die hoch ambitionierten und nur teilweise durch neue Steuereinnahmen gedeckten Ausgabenpläne der Biden-Regierung noch nicht einmal in der Schuldenprognose enthalten.
 
Die Feststellung fällt in eine Phase, in der viele Ökonomen neu über Staatsschulden nachdenken, nicht zuletzt dank Jason Furman und Larry Summers. Sie hatten in einem erhellenden Aufsatz verdeutlicht, dass hohe Staatsschulden nicht zwangsläufig hohe Zinsen begründen. Als im Jahr 2000 das Verhältnis von Staatsschulden zum amerikanischen Bruttoinlandsprodukt ganze sechs Prozent betrug, lagen die Realzinsen bei 4,3 Prozent. 20 Jahre später, als die Schulden 100 Prozent der Wirtschaftsleistung entsprachen, bei minus 0,1 Prozent. Diese Entwicklung eröffnete fiskalische Spielräume, die lange nicht für möglich gehalten wurden. Furman und Summers wiesen darauf hin, dass aktuell in Amerika die Zinslast der öffentlichen Schulden nicht nennenswert größer ist als sonst.
 
Nur: Eine Garantie, dass die Zinsen auf dem niedrigen Niveau festgeschweißt sind, gibt es nicht. Wenn sie steigen, dann wächst die Belastung für den Staatshaushalt und damit der Zwang, die Schulden zu reduzieren. Eine solche Situation wäre nicht neu. Die Geschichte zeigt mehrere Möglichkeiten dafür auf, das Verhältnis von Staatsschulden zur Wirtschaftsleistung zu reduzieren: durch kräftiges Wirtschaftswachstum, durch Sparen, durch Schuldenschnitte und durch Inflation.
 
Etwas in Vergessenheit geraten ist eine Methode, die zumindest für viele Industrieländer entscheidend war, um die im Zweiten Weltkrieg aufgeschichteten Schuldenberge abzutragen: finanzielle Repression. Grob sind damit Regeln gemeint, die Regierungen erlassen, um Finanzmittel, die unter freien Verhältnissen anderswo besser angelegt worden wären, in ihre Richtung zu kanalisieren. Verschiedene Methoden wurden und werden praktiziert. In den Vereinigten Staaten verbot Präsident Franklin Delano Roosevelt privaten Bürgern 1933, Goldmünzen zu halten. 1942 beschränkte die Regierung die Zinsen auf Sparguthaben generell auf 2,5 Prozent. Diese Regel blieb bis 1951 in Kraft. Die Grundidee ist immer, die heimische Bevölkerung und die Investorenklasse zu veranlassen, ihrer Regierung Geld zu einem Zins zu überlassen, der unter einem Marktzins liegt. Das ist eine Form der Ausbeutung. Wenn die Leute auf ihre Ersparnisse zum Beispiel nur 2,5 Prozent bekamen, legten sie das Geld lieber in Schatzbriefen an. Zu dem staatlichen Instrumentenkasten gehört es auch, Pensionsfonds und Banken zu zwingen, Geld in Staatsanleihen zu investieren. Banken könnten auch zu einer höheren Reservehaltung in den Zentralbanken genötigt werden. Mit Kapitalkontrollen verhinderten viele Regierungen, dass Investoren in andere, attraktiver erscheinende ausländische Werte investierten.
 
Die Methode ist besonders wirkungsvoll, wenn sie mit Inflation gepaart ist. Die niedrigen nominalen Zinsen reduzieren die Zinslast der Staatsschulden, Inflation oberhalb der nominalen Zinsen verkleinert den realen Wert der Schulden. Zwischen 1941 und 1953 lag die Inflationsrate im Schnitt bei sechs Prozent und sorgte in Kombination mit staatlich gezügelten Nominalzinsen dafür, dass die amerikanische Regierung ihre Schulden in dieser vergleichsweise kurzen Zeitspanne deutlich nach unten bringen konnte. Die Ökonomin Carmen Reinhart geht davon aus, dass in Amerika zwischen 1945 und 1980 die Ersparnisse knapp 20 Prozent der Steuereinnahmen beziehungsweise drei bis vier Prozent der Wirtschaftsleistung entsprachen. Die damit einhergehende Teilliquidation der Realschulden war gut für die Regierung und schlecht für die Investoren, die dem Staat Geld geliehen hatten.
 
Nur: Dieser finanziellen Ausbeutung der Anleger und Bürger wurde nicht viel Bedeutung zugemessen. Vielmehr fanden die politischen Autoritäten – vermutlich zu Recht -, dass die Alternativen deutlich schmerzhafter waren: Steuererhöhungen und Sparprogramme haben stets politische Sprengkraft, weil sie in der Regel unbeliebt sind und direkt auf Regierungshandeln zurückgeführt werden können. Politiker sparen oder erhöhen Steuern. Die finanzielle Repression dagegen schleicht sich heimlich heran. Zudem wirken ihre zentralen Zutaten Zinsen und Inflation wie Resultate einer schicksalhaften Entwicklung und nicht wie Ergebnisse bewusster Politik – selbst wenn sie es sind.
 
Nach 1980 fanden viele Formen der finanziellen Repression mit der Liberalisierung der Finanzmärkte ein Ende. In der Finanzkrise und der europäischen Schuldenkrise tauchte sie aber wieder auf. Europäische Länder kaperten Pensionsfonds und legten Banken neue Verpflichtungen auf oder überzeugten sie in einer Weise, dass diese nicht nein sagen mochten.
 
Carmen Reinhart, inzwischen Chefökonomin der Weltbank, hat sich in akademischen Kreisen den Ruf erworben, die größte Spezialistin für finanzielle Repression in all ihren Spielarten zu sein. Sie legt in ihren Arbeiten allerdings Wert auf eine Feststellung: Der Begriff klingt schlechter, als er es verdient hat. Die Phase zwischen 1945 und 1980 erlebte eine wachsende Integration der Länder durch internationalen Handel. Die Finanzsysteme blieben aber getrennt und erlaubten dadurch erst eine wirkungsvolle finanzielle Repression: Die Anleger brachten ihr Geld nicht ins Ausland. In diesen 35 Jahren habe die Welt keine der großen Finanz- und Bankenkrisen verzeichnet, sagt Reinhart. Sie kamen nach ihrer Darstellung mit der Liberalisierung der Finanzmärkte, und es gab sie häufig vor dem Zweiten Weltkrieg, als das Kapital viel freier floss. Finanzielle Repression, so negativ es klingt, bedeutet nach ihren Worten nur, dass man die Finanzmärkte nicht dem “Laissez-faire” überlässt. Welches Szenario für den Anleger besser ist, ist damit nicht klar: Er scheint stets zur Kasse gebeten zu werden.


Literatur:
Carmen M. Reinhart/ M. Belen Sbrancia: The Liquidation of Government Debt, 2015
Carmen M. Reinhart: The Return of Financial Repression, 2012