Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Die Welt als Vulkan

Innovationen, aber auch Imitationen, bringen uns voran. Zum 100. Geburtstag von Herbert Giersch

Stellen wir uns die Weltwirtschaft in sehr starker Vereinfachung als eine Stadt vor, die von Land umgeben ist und nehmen wir zusätzlich an, die Menschheit befinde sich technisch auf dem Stand des frühen 19. Jahrhunderts mit Pferdefuhrwerken als dem leistungsfähigsten Transportmittel. Wie funktionierte diese kleine Wirtschaft? Die Stadtbewohner beziehen ihre Nahrungsmittel aus dem Umland, in dem Landwirte abhängig von den Transportkosten und der Verderblichkeit der Waren Ackerbau und Viehzucht betrieben. Optimal ist ein ringförmige Verwendung des Ackerlands. Für den stadtnächsten inneren Ring eignet sich das schnell verderbliche Gemüse, während sich im zweiten Ring wegen der hohen Transportkosten ein Wald findet, der die Stadt mit Brennholz versorgt. Der dritte Rang ist dem Ackerbau gewidmet, während sich der äußerste Ring nur noch für die Viehzucht eignet. Zwar weist auch sie hohe Transportkosten auf, aber Fleisch erzielt im Gegenzug deutlich höhere Verkaufspreise als Gemüse oder Getreide. Die Stadt kauft landwirtschaftliche Produkte aus dem Umland an und verkauft im Gegenzug andere Waren, zum Beispiel Bekleidung, an die im Umland lebenden Menschen.

Das Modell stammt von Johann Heinrich von Thünen (1783 bis 1850), der in Mecklenburg das Gut Tellow bewirtschaftete und nebenher wirtschaftswissenschaftliche Analysen verfasste, die zum Besten zählen, was Ökonomen nicht nur in Deutschland im 19. Jahrhundert eingefallen ist. Rund 150 Jahre später nahm sich der deutsche Ökonom Herbert Giersch (1921 bis 2010) Thünens unter der Bezeichnung „Der isolierte Staat“ bekannte Modell zum Ausgangspunkt, um Gedanken über die wirtschaftliche Bedeutung der Verbreitung von Wissen in einer globalisierten modernen Wirtschaft anzustellen.

Wie in Thünens Modell befindet sich im Zentrum von Gierschs Modell ein zentraler Ort, der durch einen Zufall entstanden sein mag – „sei es durch die Bereitstellung eines öffentlichen Gutes (zum Beispiel innere und äußere Sicherheit, ein funktionierender Rechtsstaat), durch eine möglichst gute Ausstattung mit natürlichen Ressourcen (zum Beispiel Rohstoffvorkommen, ein angenehmes Klima) oder durch die Agglomerationswirkung externer Effekte (zum Beispiel die Ballung technischen Wissens oder joch spezialisierter Arbeitsmärkte.“ So beschrieb es der Giersch-Schüler Karl-Heinz Paqué in einem Aufsatz für einen lehrreichen Sammelbank über Gierschs Werk. In diesem Zentrum übertreffen die Pro-Kopf-Einkommen ihre Vergleichswerte im Umland, da sich das Zentrum wegen seiner Vorzüge einer höheren Produktivität erfreut. Im nächsten Schritt nehmen wir an, in Gierschs Zentrum sorgten dynamische Unternehmer auf der Basis ständig neuen Wissens für Innovationen, die ihnen zumindest vorübergehend hohe Gewinne bescheren und daher im Umland imitiert werden. Bildlich lässt sich Gierschs Zentrum als ein Vulkan vorstellen, dessen Spitze immer neues Wissen ausspeit, „das sich dann als fruchtbare Lava seinen Weg zur Peripherie bahnt und damit den Prozess der Imitation von Innovationen beschreibt. (Paqué).

In Gierschs Modell kommt es zu einem Wettlauf zwischen Zentrum und Peripherie, weil die Peripherie durch Imitation versucht, das Zentrum wirtschaftlich einzuholen, während sich das Zentrum bemüht, durch immer neue Innovationen seinen Wettbewerbsvorsprung zu bewahren. Ob die Peripherie so schnell Innovationen imitieren kann, dass sich die Unterschiede der Pro-Kopf-Einkommen einebnen, lässt sich von Vornherein nicht sagen. Langfristige Prognosen der Entwicklung dynamischer Marktwirtschaften sind eine müßige Übung.

Gierschs Schüler bezeichneten diese Konzeption als „Vulkantheorie“ – ein schöner Name, der sich allerdings kaum in den Lehrbüchern findet, obgleich diese Theorie Elemente enthält, die sich in etwas später in den Vereinigten Staaten entwickelten Theorien finden, für die Nobelpreise vergeben wurden. Zu denken wäre etwa an die moderne Theorie des Wirtschaftswachstum, für die der Preisträger Paul Romer steht, oder die vom jungen Paul Krugman geprägte moderne Wirtschaftsgeografie. Obgleich Giersch, wohl der einflussreichste deutsche Ökonom der Jahre 1965 bis 2000, sehr erfindungsreich war, blieb ihm der Nobelpreis (den viele seiner Schüler für angemessen hielten) versagt.

In den sechziger Jahren gehörte Giersch dem ersten Sachverständigenrat an, in dem er für die Vorzüge einer Ordnung flexibler Wechselkurse warb. Gleichzeitig entwickelte er mit Karl Schiller keynesianische Konzepte für eine Konjunkturpolitik in Deutschland. Ab den siebziger Jahren verschrieb sich Giersch, nun als Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, angebotspolitischen Analysen einer globalisierten Weltwirtschaft; an die Stelle einer kurzfristigen Konjunktursteuerung à la Keynes traten nun Überlegungen zu den Notwendigkeiten offener Märkte und sich wandelnder Wirtschaftsstrukturen in einer durch dynamisches Unternehmertum geprägten offenen Weltwirtschaft. Für Europa diagnostizierte er früh Wettbewerbsschwächen durch verkrustete Strukturen; für dieses Phänomen prägte sich der Name „Eurosklerose“ ein.

Giersch war ein Wissenschaftsmanager und ein – auch internationaler – Netzwerker von hohen Graden; viele Studenten und Mitarbeiter absolvierten schöne Karrieren in Hochschulen, Regierungen, Unternehmen, internationalen Organisationen und Medien. Unübertroffen blieb er durch seinen Willen zur gestalterischen Kraft und durch eine beeindruckende intellektuelle Offenheit und Aufrichtigkeit, die alles andere war als Beliebigkeit. Giersch vermochte es glaubwürdig, die Präsidentschaft der erzliberalen Mont-Pèlerin-Gesellschaft wahrzunehmen und in seiner Privatbibliothek alleine John Maynard Keynes mit einem Foto zu ehren. Folgerichtig hatte Giersch Schüler, aber keine Nachfolger.

Warum erhielt er keinen Nobelpreis? Auf eine Spur führt ein Zitat eines lebenslangen engen Freundes, des amerikanischen Nobelpreisträgers Robert Solow. Als Giersch einmal mit Verve auf der Basis seiner „Vulkantheorie“ argumentierte, bemerkte Solow: „Niemandem auf der Welt würde ich gestatten, auf diese Weise Theorie zu betreiben – außer Herbert.“ Denn so einleuchtend die „Vulkantheorie“ auch intuitiv sein mag, so fehlt ihr eine starke formale Grundlage, die von modernen Ökonomen nun einmal erwartet wird. Der Tausendsassa Giersch, der sich für so viele Themen interessierte und auf so vielen Hochzeiten tanzte, war nicht der Mann, der sich in der stillen Studierstube theoretischen Filigranübungen verschrieb, die allenfalls Spezialisten wahrnahmen. Ein großer Ökonom aber war er unbedingt.

Literatur: Das Zeitalter von Herbert Giersch. Wirtschaftspolitik für eine offene Welt. Herausgegeben von Lars P. Feld, Karen Horn und Karl-Heinz Paqué (2013)

Dieser Beitrag ist am 9. Mai in der Rubrik “Sonntagsökonom” in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen.