Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Der mysteriöse Arbeitsmarkt

Ein Markt, der ganz anders ist als alle anderen Märkte, sollte vielleicht gar nicht so genannt werden.

Von Jürgen Kaube

 
 
Im Herbst 2014 hackten nordkoreanische Computerspezialisten Dateien von Sony Pictures. Darunter waren auch Dokumente über Gehälter. Die Schauspielerin Charlize Theron verlangte daraufhin von ihrem Arbeitgeber dieselbe Entlohnung für den Film “The Huntsman & The Ice Queen” wie ihr Kollege Chris Hemsworth, nämlich zehn Millionen Dollar mehr, als ihr zuvor zugestanden wurde. Gleicher Lohn für gleiche Leistung.
 
Auf die Frage, wonach sich die Lohnhöhe einer Arbeitskraft berechnet, hat die Wirtschaftswissenschaft eine lapidare Antwort und viele ergänzende. Lapidar: nach ihrer Produktivität. Es werden bei gegebenem Lohn so viele Arbeitskräfte eingestellt, bis die Umsatzerlöse aus der Tätigkeit des letzten Eingestellten seiner Entlohnung entspricht. Der gegebene Lohn ergibt sich aus Nachfrage und Angebot auf dem Arbeitsmarkt. In Löhne und Gehälter gehen also ein: das berühmte Humankapital, das Beschäftigte befähigt, zu den Erlösen einer Firma beizutragen, die Lage der Firma im Markt und der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt. Das soll jedenfalls für Wirtschaftsunternehmen gelten. Für Beamte und Bischöfe bräuchte es eine andere Theorie.
 
Kommt es zu Arbeitslosigkeit, kann das den ergänzenden Antworten zufolge daran liegen, dass höhere Löhne gezahlt werden. Effizienzlöhne etwa, die das Problem schwer entdeckbarer Minderleistung lösen sollen. Die Belegschaft erhält höhere als die am Markt erzielbaren Löhne, damit sie es sich zweimal überlegt, Arbeit nur vorzutäuschen.
 
So weit, so modellförmig, mit all den Annahmen, die solche Modelle machen: Messbarkeit der Produktivität, transparente Arbeitsmärkte, keine staatlichen Regulierungen. Nicht nur die Welt der Angestellten, die nicht stückweise produzieren, wirft hier viele Fragen auf. So wird beispielsweise der Lohn oft bestimmt, bevor die Produktivität erwiesen ist. Bei Enttäuschungen über die Leistungsfähigkeit, aber auch bei erfreulichen Überraschungen erweist er sich oft als inflexibel. Oder es gehen Qualifikationen in die Gehaltsfestlegung ein, schulische und akademische Zeugnisse etwa, von denen aber nur bedingt auf die Produktivität geschlossen werden kann.
 
Überhaupt die Produktivität. Ist die Arbeit Stephen Schwarzmans für die Blackstone Investmentgesellschaft wirklich die 785 Millionen Dollar wert, die ihm 2018 dafür gezahlt wurden? Wie viel würde Blackstone verlieren, wenn Schwarzman ersetzt würde? Es ist genauso schwer herauszufinden wie die Triftigkeit der Behauptung, Mindestlöhne reflektierten keinesfalls die Produktivität der Paketboten.
 
Der amerikanische Soziologe Jake Rosenfeld hat gerade ein Buch vorgelegt, in dem er der Wirklichkeit der Lohnbestimmung näherkommen möchte als mikroökonomische Modelle. So gehen in die Löhne beispielsweise Vergleiche ein, die ganz unabhängig von individuellen Leistungen sind. Es wird oft das “branchenübliche” Gehalt gezahlt. Die Hälfte aller Arbeiter in den Vereinigten Staaten berichtet, dem Jobangebot sei im Bewerbungsgespräch die Frage vorangegangen, was sie denn auf ihrer vorherigen Stelle verdient hätten. Der Jobwechsel verbreitet also die Information über typische Entlohnung. In einigen Bundesstaaten ist diese Frage nach dem bisherigen Lohn inzwischen verboten, weil sie zur Verfestigung von ungleicher Bezahlung gleicher Arbeit aufgrund irrelevanter Merkmale (Geschlecht, Hautfarbe) führen kann.
 
Damit ist das Verlangen nach fairer Entlohnung schon angesprochen, das der Autor neben Verhandlungsmacht, Inflexibilität und Nachahmung als vierten Faktor der Lohnbestimmung identifiziert. Als unfair wird etwa die Reduktion von Löhnen und Gehältern empfunden, die im ökonomischen Modell ganz selbstverständlich wäre, sobald es einem Unternehmen schlechter geht. Hunderte von Unternehmen, berichtet Rosenfeld, hätten sich eine 2017 gesetzlich erlaubten Senkung des Mindestlohns in St. Louis von 10 auf 7,70 Dollar nicht zu eigen gemacht, weil das die Arbeitsmoral ruiniert hätte. Insgesamt werden in Krisen Entlassungen Lohnsenkungen vorgezogen. Das hat John Hicks in seiner “Theorie der Löhne” als Rigidität der Nominallöhne in Rezessionen schon 1932 festgehalten. Psychologisch formuliert Rosenfeld: Unternehmer sind lieber die Freunde der verbleibenden Arbeitskräfte als die Feinde aller Anwesenden.
 
Umgekehrt führen Steigerungen des Mindestlohns dazu, dass mindestens mittelfristig auch die höheren Löhne in einer Firma ansteigen, damit die Abstände zwischen den Entlohnungen erhalten bleiben. Auch diese Abstände nämlich werden als Ausdruck fairer Entlohnung für ungleiche Arbeit betrachtet und persönlich genommen. Werden Löhne erhöht, um Leistungsanreize zu geben, beschweren sich unter Umständen auch diejenigen, die auch ohne solche Anreize schon hohe Leistungen erbracht haben.
 
Kurz: Unvollkommenheiten des Arbeitsmarktes sind die Norm und nicht die politisch leicht zu beseitigende Ausnahme. So kann beispielsweise, anders als es die Metapher suggeriert, nicht alles Humankapital von einem Arbeitsplatz zu einem anderen mitgenommen werden. Ein erheblicher Teil der Produktivität ist nämlich firmenspezifisch, abhängig von den Kollegen und anderen Arbeitsumständen. Die vollständige Zurechnung der Leistung auf ein Individuum wird darum auch bei verbesserten Berechnungsverfahren, die manche Ökonomen für den Grund größerer Einkommensungleichheit halten, nicht möglich sein. Die Höhe der Löhne und Gehälter ist überdies weitgehend eine private Information, siehe den Unterschied zwischen dem Huntsman und der Ice Queen. In zahlreichen Studien ist übrigens nachgewiesen worden, dass die Reaktionen auf ungleiche Bezahlung ihrerseits ungleich sind: Unterbezahlte Personen reagieren stärker negativ, wenn sie es erfahren, als überbezahlte positiv. Die Überbezahlten reagieren vielmehr gar nicht und folgen der Logik des Satzes “Die meisten arbeiten überdurchschnittlich”.
 
Rosenfelds Hinweise auf Abweichungen des Arbeitsmarktes von einem Wettbewerbsmodell sind zahlreich. Im Silicon Valley hatten sich große Arbeitgeber darauf geeinigt, einander Spitzenkräfte nicht abzuwerben. Gerichte untersagten das zwar, aber die von den Arbeitnehmern erstrittene Zahlung kompensierte sie bei Weitem nicht für die entgangenen Saläre. Ähnliche Verpflichtungen, nicht von der Konkurrenz abzuwerben, gibt es im Fast-Food-Sektor und bei Fitnessstudios.
 
In den Diskussionen über den Begriff “systemrelevant” sowie über die Differenz zwischen Applaus für und Bezahlung von Pflegekräften wiederholt sich diese Schwierigkeit. Eine Tätigkeit scheint unentbehrlich und ist zugleich unterbezahlt. Der Verweis auf den Markt hilft hier nicht weiter, denn ein Markt, der in fast allem von anderen Märkten abweicht, sollte am Ende vielleicht gar nicht mehr so genannt werden.
 
Jake Rosenfeld: You’re Paid What You’re Worth: And Other Myths of the Modern Economy, Harvard Belknap, Cambridge, Mass. 2021.