Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Kopflos ins Impfdesaster

 
Menschen ticken nicht rational. Kein Wunder, dass so viele noch ungeimpft sind. 

 
Der Homo oeconomicus ist längt geimpft. Dieser streng rationale Modellmensch, der vor jeder Entscheidung Vor- und Nachteile abwägt und dann das Beste für sich rausholt, hat nicht gezögert. Denn die Kosten-Nutzen-Rechnung ist einfach: Die Corona-Impfung gibt es umsonst und ohne großen Aufwand, ernste Nebenwirkungen treten nur selten auf, und andere Kosten sind nicht bekannt.
 
Der Nutzen ist dagegen groß. Auch wenn es wegen der Delta-Variante häufiger zu Impfdurchbrüchen kommt, schützt der Piks in den Oberarm in den allermeisten Fällen vor schweren Krankheitsverläufen. In Zeiten von 2 G ist die Impfung die Eintrittskarte in Restaurants und das öffentliche Leben. Die Immunisierung hat außerdem einen positiven psychologischen Effekt, der sich beziffern lässt: In Großbritannien haben Ökonomen der University of Warwick gerade herausgefunden, dass die Lebenszufriedenheit der Geimpften stark gestiegen ist und so etwa die Hälfte der Pandemie-Depression wieder wettmacht wurde.
 
Warum haben sich trotz dieser eindeutigen Rechnung in Deutschland laut Bundesregierung noch immer rund 20 Prozent der Erwachsenen nicht impfen lassen? Ökonomen, die in ihren Modellen mit dem Homo oeconomicus argumentieren, stellt das vor ein Rätsel. Dem streng rationalen Nutzenmaximierer, den Volkswirte schon vor Jahrhunderten in das Zentrum ihrer Modelle gesteckt haben, wurde in den vergangenen Jahren zwar viele neue Eigenschaften verpasst – zum Beispiel ein Hang zu altruistischem Verhalten. Das macht die Sache aber eher noch schlimmer. Denn vom Impfen profitieren bekanntlich auch Mitmenschen und Pflegekräfte. Ein solidarischer Homo oeconomicus würde sich also erst recht impfen lassen.
 
Da es mit der Ratio also nicht weit her zu sein scheint, darf man also mit Fug und Recht fragen, ob bei einem Teil der Bevölkerung der Verstand aussetzt, sobald es ums Impfen geht. Die Antwort lautet Jein. Denn einerseits ist das Verhalten eindeutig nicht rational – andererseits ist längst bekannt, dass Menschen in vielen Situationen zwar nach klaren Mustern entscheiden, aber ganz anders als der Homo oeconomicus. Mit neueren Modellen, die aus verhaltensökonomischen Einsichten entstanden sind, lässt sich die geringe Impfquote sehr gut erklären.
 
Zwei Pioniere auf diesem Gebiet sind der Psychologe Daniel Kahneman und sein schon verstorbener Fachkollege Amos Tversky. Schon vor 40 Jahren beschäftigten sie sich in einer gemeinsamen Arbeit damit, dass sich Amerika auf den “Ausbruch einer ungewöhnlichen asiatischen Seuche” vorbereiten muss, die womöglich 600 Menschen umbringen wird. Die Psychologen konfrontierten Probanden mit alternativen Impfprogrammen. Dabei ging es zwar nicht um die persönliche Impfentscheidung, das Ergebnis zeigte aber dennoch, dass es mit der kühl kalkulierten Entscheidung nicht weit her ist.
 
Die erste Gruppe der Versuchsteilnehmer wurde vor die Wahl gestellt, ob sie lieber einen Impfstoff hätte, mit dem ganz sicher 200 Menschen gerettet werden – oder einen anderen Impfstoff, mit dem mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Drittel alle 600 Menschen gerettet werden und mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln niemand gerettet wird.
Versuchsgruppe B sollte ebenfalls zwischen zwei Impfstoffen entscheiden: Mit dem ersten sterben sicher 400 Menschen, mit dem zweiten stirbt mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Drittel niemand, mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Drittel sterben alle 600 Menschen.
 
Wer einen Moment nachdenkt, wird erkennen, dass beide Versuchsgruppen vor der identischen Wahl standen. Dennoch entschieden sie unterschiedlich. In der ersten Variante votierte die Mehrheit dafür, dass ganz sicher 200 Leben gerettet werden sollen – die risikoscheue Option. Bei der zweiten Variante entschied die Mehrheit für das Risiko – also den Impfstoff, mit dem womöglich niemand sterben muss.
 
Ausschlaggebend für die Diskrepanz ist den Forschern zufolge das Framing, also die Worte, mit denen das Problem verpackt wurde. In Variante A ist davon die Rede, Menschenleben zu retten, in Variante B geht es darum, Todesfälle, also Verluste zu vermeiden. Aus vielen Versuchen ist bekannt, dass Menschen unter einer “Verlustaversion” leiden. Sie sind also bereit, unverhältnismäßig große Risiken einzugehen, um Verluste zu vermeiden. Wenige Worte können demnach darüber entscheiden, wie Menschen zu einem Impfstoff stehen. Der Experimentalpsychologe Steven Pinker warnt deshalb in seinem jüngsten Buch: “Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie diese Formulierungen zur Manipulation von Menschen genutzt werden können.”
 
Die Anfälligkeit für tendenziöse Formulierungen und die Angst vor Verlusten sind nicht die einzigen Schwächen, die uns Menschen unvernünftige Entscheidungen treffen lassen. Wir besitzen zudem die unschöne Neigung, vor allem die Informationen und Dinge wahrzunehmen, die zu unserem Weltbild und unserer Meinung passen. Wir gewichten kleine Gewinne, die wir sofort haben können, höher als große, die wir in ein paar Jahren bekommen. Noch schlimmer ist unsere verheerend schlechte Intuition, wenn es um Wahrscheinlichkeiten geht. Dinge, die fast nie vorkommen, etwa ernste Impfnebenwirkungen, gewichten wir absurd hoch.
 
Die Forscher Kahneman und Tversky haben all diese Dispositionen in ihre mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnete “Prospect Theory” gegossen. Wie vier französische Wissenschaftler nun nachweisen, ist diese Theorie sehr gut in der Lage zu erklären, warum sich so viele Menschen gegen die Impfung entschieden haben. François Langot (Le Mans University) und seine Ko-Autoren haben dafür 900 Franzosen kleine ökonomische Entscheidungen treffen lassen und auf diese Weise herausgefunden, wie geduldig die Probanden sind, welche Risiken sie eingehen und wie wichtig ihnen das Wohl anderer ist. Auf Grundlage dieser Parameter simulierten sie die Impfentscheidungen der Franzosen. “Tatsächlich erklärt die Prospect-Theorie vor allem wegen der zu stark gewichteten Nebenwirkungen die Ablehnung der Impfung”, schlussfolgern die Forscher.
 
Lernen lässt sich daraus eine Menge. Zum Beispiel, dass (zumindest kleinere) Geldgeschenke wenig an der Impfbereitschaft ändern würden. Es geht um mehr als Kosten und Nutzen. Sinnvoller wäre es den Forschern zufolge, noch einmal genauer zu erklären, wie verschwindend gering das Risiko starker Nebenwirkungen ist und wie sehr auch andere von der eigenen Impfung profitieren. Allerdings scheint es für all das inzwischen reichlich spät. Die Politik diskutiert längst über eine allgemeine Impfpflicht.


Literatur:
Amos Tversky, Daniel Kahneman: The Framing of Decisions and the Psychology of Choice, Sciene 1981
Steven Pinker: Mehr Rationalität, S. Fischer, 2021
François Langot et al.: Preferences and COVID-19 Vaccination Intentions, IZA Discussion Paper, Oktober 2021