Wie der britische Adel einst mit Partys seine Macht bewahrte und was dies bis heute für Heiratsmärkte bedeutet. Von Maja Brankovic
London, im Jahr 1813: Die High Society ist im Hochzeitswahn. Die “Saison” hat begonnen, die Landadeligen sind in die Stadt geströmt und haben Quartier in ihren edlen Stadtvillen bezogen, um ihre heiratsfähigen Töchter in die Gesellschaft einzuführen. Abends werden sie auf Bällen tanzen und sich auf Dinnerpartys vergnügen, tagsüber mit ihresgleichen durch den Park flanieren. Sie alle teilen das eine große Ziel: dass ein reicher Mann von hohem Rang um die Hand ihrer Mädchen anhält.
Auch für Daphne, älteste Tochter des Hauses Bridgerton, geht es um alles in diesem Jahr. Ganz in Weiß gekleidet, begleitet von ihrer Mutter, der verwitweten Viscountess, tritt sie vor die Königin und verbeugt sich mit einem Knicks. Damit ist sie offiziell auf dem Markt. Ihr ganzes Leben hat ihre Mutter sie auf diesen Schritt vorbereitet. Der Druck ist hoch, sie hat nicht viel Zeit. Eine Saison, vielleicht zwei, dann muss sie unter der Haube sein. Die Königin mustert sie, findet Gefallen und erklärt sie für “makellos”.
Daphne und ihr Eintritt in den wohl exklusivsten Heiratsmarkt der Welt stehen im Zentrum der Netflix-Serie “Bridgerton”, eines Kostümspektakels, das Ende 2020 erschien und bis heute die zweitmeistgesehene Serie des Streamingdienstes ist. “Bridgerton” ist purer Eskapismus und hat doch einen wahren Kern: Die jungen Frauen hatten damals tatsächlich nur ein Zeitfenster von wenigen Jahren, um einen Ehemann zu finden. Gelang es ihnen nicht, war ihnen ein Schicksal als Jungfer beschieden. Eine Schmach für die Frauen und ihre gesamte Familie.
Was als Stoff für eine Erfolgsserie taugt, hat auch in der ökonomischen Forschung einen Platz, wie ein gerade veröffentlichtes Paper des Ökonomen Marc Goñi beweist. Seine Liebe zu den Büchern Jane Austens soll ihn zum exklusiven Heiratsmarkt der britischen Aristokraten im 19. Jahrhundert gebracht haben, berichtete einmal die österreichische Zeitung “Die Presse”. Der Forscher von der Uni Bergen wollte wissen, wie genau dieser Markt funktionierte. Dafür schaute er, was sich änderte, als dieser Heiratsmarkt von einem Tag auf den anderen zusammenbrach.
Genau das geschah im Jahr 1861, als Königin Victoria, in Trauer um ihren verstorbenen Ehemann, drei Saisons in Folge strich. Die Adligen trafen sich nicht mehr in London zu Bällen, Partys und Spaziergängen, sondern blieben in ihren Landsitzen, über das ganze Land verteilt. Goñi fragte sich: Welche Ehen wurden in dieser Zeit geschlossen? Was machte das mit den adeligen Familien? Was geschah mit ihrem Einfluss? Und mit ihrem Geld?
Um eine Antwort auf seine Fragen zu finden, wühlte er tief in den Dokumenten der viktorianischen Gesellschaft. Er ging die Einladungslisten der königlichen Bälle der Jahre 1851 bis 1875 durch, die allesamt im britischen Nationalarchiv abgelegt sind. Er durchforstete Stammbäume, Landgutregister und Bücher über die aristokratischen Familiensitze. Die Trauerperiode der Königin führte ab dem Jahr 1861 zu einem unübersehbaren Bruch: Als die Saison für drei Jahre aussetzte, erhöhte sich für den adeligen Nachwuchs nicht nur die Wahrscheinlichkeit, einen Bürgerlichen oder eine Bürgerliche zu heiraten, um 40 Prozent. Es beschleunigte wohl auch den Niedergang des Adels selbst.
Goñi hatte eine Idee, wonach er suchen sollte. “Um das 22. Lebensjahr herum glich sich der Marktwert der Töchter von höheren Adeligen – Herzögen, Markgrafen und Grafen – dem der Töchter von Baronen und Viscounts aus den unteren Rängen an”, schreibt er. Töchter, die knapp jünger waren, empfanden vermutlich auch im Jahr 1861 diesen Druck, daran änderte auch eine ausgefallene Saison nichts. Mehr noch: Manche hat diese Pause vermutlich in Heiratspanik versetzt. Denn niemand konnte wissen, wie lange der Ritus ausgesetzt werden würde. Die Töchter, die eigentlich “dran” waren mit Heiraten, mussten sich also auf anderen “Märkten” einen Ehemann suchen.
In den Daten konnte der Forscher diese Panik förmlich sehen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass eine junge Frau mit Titel einen Bürgerlichen heiratete, stieg in dieser Zeit um fast die Hälfte. Mehr noch: Selbst wenn sie innerhalb ihrer Klasse heirateten, war die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie einen ärmeren Ehemann heirateten oder einen Verehrer in der Nähe ihres Wohnortes wählten. “Natürlich wussten sie nicht, wann es wieder losgehen würde”, sagt Goñi. Seine Arbeit impliziert, dass viele auf Nummer sicher gingen, statt ihre besten Jahre mit dem Warten auf die Rückkehr der Bälle zu verschwenden (und damit Gefahr zu laufen, als Jungfer zu enden). “Sie beschlossen wohl, sich zu beeilen und denjenigen zu heiraten, der zu dieser Zeit verfügbar war”, vermutet Goñi. Was verständlich ist, in den Augen der Familie aber vermutlich ein Fehler war.
Durch die Heirat mit einem Bürgerlichen erlitten die Frauen einen Reputationsverlust und häufig auch einen finanziellen Abstieg. Beides traf unweigerlich auch ihre Familien. Wie Goñis Analyse zeigt, setzte das einen Dominoeffekt in Gang. Die Brüder der Frau wurden mit 50 Prozent geringerer Wahrscheinlichkeit Mitglieder des Parlaments.
Das war vor allem deshalb von Bedeutung, weil eine Gesetzesänderung aus dem Jahr 1870 die Einrichtung von Schulen für Bürgerliche ermöglichte. Ohne diese politische Macht waren die Familien nicht in der Lage, sich den Steuern zu widersetzen, die ihnen die Lokalregierungen aufhalsten, um die neuen Schulen zu finanzieren. Der Machtverlust war doppelt schmerzhaft: Zum einen schmälerten die Steuern ihr Vermögen, zum anderen hatte ihre Dienerschaft nun auch Zugang zu Bildung und so die Hoffnung auf einen anderen Lebensweg. Goñi stellte fest, dass die Steuern in der Nähe des Familiensitzes höher waren, wo eine Frau einen Bürgerlichen geheiratet hatte.
Aus der Perspektive der Aristokraten war es also ein Drama, dass ihr hochexklusiver Heiratsmarkt für eine Weile zusammenbrach. Für Goñi beschränkt sich diese Erkenntnis aber nicht nur auf die britische Gesellschaft im 19. Jahrhundert, sondern reicht weit in die Gegenwart hinein. Bis heute laufe die Partnerwahl häufig auf exklusiven Märkten ab, bis heute übe das einen großen Einfluss auf den Wohlstand der Gesellschaft aus, meint er.
In der Tat zeigen alle jüngeren Untersuchungen, dass sich die Menschen bis heute auf die Suche in einem vergleichsweise kleinen Radius machen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2013 suchen sich in wohlhabenden Ländern die meisten Menschen einen Partner mit ähnlichem Bildungsniveau, ähnlichem Einkommen oder ähnlicher gesellschaftlicher Stellung. In den USA geben in Umfragen 60 Prozent der Befragten an, ihren Partner an einem Ort getroffen zu haben, der in irgendeiner Form Zugangsbeschränkungen hat: an der Uni, in der Arbeit, in der Kirche. “Jede wäre gern mit George Clooney verheiratet, aber nur wenige haben die Chance, ihn kennenzulernen”, sagt Goñi. Daran sieht er wenig Gutes. Denn exklusive Heiratsmärkte zementieren die gesellschaftliche Spaltung und tragen zur Zementierung der Ungleichheit bei.