Auf und Ab der Steuersätze zeigt sich, was einer Gesellschaft wichtig ist. Von Jürgen Kaube
Der Legende zufolge begann die Französische Revolution mit dem Sturm auf die Bastille. Tatsächlich stand an ihrem Beginn aber die Erstürmung der Steuerhäuser an den Stadtgrenzen von Paris, in denen die Abgaben auf eingeführte Lebensmittel eingetrieben wurden. Sie hatten das Leben der Stadtbewohner stark verteuert und belasteten vor allem die Armen.
Steuern sind Zahlungen ohne bestimmte Gegenleistung. Was der Staat mit ihnen macht, ist inzwischen das Ergebnis politischer Verhandlungen, so wie auch die Höhe und Form der Steuern selbst. Der Ruf “no taxation without representation”, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg erscholl, galt dieser Verknüpfung von politischen Rechten und Zahlungsbereitschaft.
Der Historiker Marc Buggeln von der Berliner Humboldt-Universität hat jetzt eine tausendseitige Geschichte des Kampfs um direkte und progressive Steuern in Deutschland, England, Frankreich und den Vereinigten Staaten vorgelegt. Direkte Steuern werden auf das Einkommen erhoben. Progressiv sind sie, wenn ihr Prozentsatz mit der Höhe des Einkommens ansteigt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs lag beispielsweise der Spitzensteuersatz in Großbritannien und den Vereinigten Staaten bei mehr als 90 Prozent. Im Ersten Weltkrieg schon war er auf 50 und 77 Prozent gestiegen.
Gerade in den liberalen Staaten also griffen die Parlamente überproportional auf die Einkommen der Wohlhabenden zu. Das ist auch schon die erste These des Historikers: Zu den größten Gleichmachern der jüngeren Geschichte gehörten die Weltkriege. Das Argument war damals, die ärmeren Schichten stellten das Gros der Soldaten, also hätten die reicheren Kreise ein zusätzliches monetäres Opfer zu bringen.
Buggelns Stanforder Kollege Walter Scheidel hat argumentiert, es seien ausschließlich Katastrophen – zusätzlich zu Kriegen noch Revolutionen, Epidemien und Staatsbankrotte – gewesen, die zu stark progressiven Steuersystemen führten. Denselben Schluss zieht Buggeln aber nicht. Wie hätte es sonst auch zur geringen Einkommensungleichheit in Dänemark oder Schweden kommen können? Die Geschichte der Steuerpolitik ist auch die Geschichte einer vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Jahre um 1970 zunehmenden Kraft des Gleichheitsarguments: Um des sozialen Friedens willen sei eine stärkere Beteiligung hoher Einkommen am modernen, überall aktiven Staat wünschenswert.
Im Staatshandeln sollten sich also die Ansprüche gesellschaftlicher Kräfte gleichmäßig widerspiegeln. Die alten Systeme der Kopfsteuer und der proportionalen Besteuerung kommen allmählich außer Gebrauch, demokratische Staaten haben nachweislich eine Tendenz zu progressiven Steuern. Sie leuchteten mitunter sogar den Unternehmern ein, die ein Interesse an Massenkaufkraft haben. Ihre eigenen Gewinne hängen davon ab, dass der Bevölkerung mehr Netto vom Brutto übrig bleibt.
Mit dem allgemeinen Wahlrecht verwandelte sich der Staat in einen Steuerstaat, in dem die Bürger sich primär durch Steuerzahlung und Debatten über die Steuerverwendung am Gemeinwesen beteiligen. Die Steuern ihrerseits verwandeln sich von Belastungen, die sich bei Konsumsteuern in den Preisen der Waren verstecken, in “Mittel der Gesamtheit”, so der schwedische Ökonom Knut Wicksell. Die Ausdehnung der staatlichen Handlungsspielräume betraf dabei nicht nur die des Militärs, sondern auch Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Gesundheit. In den Worten des stärksten Fürsprechers einer progressiven Besteuerung um 1900, des amerikanischen Ökonomen Edwin Seligman, gehe es hier um die staatliche “Wiedergutmachung” gesellschaftlicher Ungleichheiten und ungleich verteilter Risiken.
Die Steuergeschichte der Nachkriegszeit ist in Deutschland eng mit der Sozialdemokratie verbunden. Die SPD verzichtete 1969 darauf, die Sozialleistungen über Steuern zu finanzieren und von den Einkommen zu lösen. Die Erhöhung des Spitzensteuersatzes lehnte sie ab. Die Kuh, die man melken wolle, müsse in gutem Zustand erhalten werden, war das Argument gegen eine stärkere Progression. Den Ausbau des Sozialstaates hoffte man über das Wirtschaftswachstum finanzieren zu können. Grundsätzliche Steuerreformen galten als wachstumsgefährdend. Als zwei Wirtschaftskrisen 1973 und 1979 von ganz anderer Seite (über den Ölpreis) hereinbrachen, geriet die Fiskalpolitik ins Schlingern. Die sozialliberale Koalition zerbrach. 1976 hatte sie den Spitzensteuersatz noch auf 56 Prozent erhöht, was im internationalen Vergleich damals niedrig war.
Während die sozialdemokratische Regierungszeit also von einer unentschlossenen Steuerpolitik geprägt war, folgte danach der Aufstieg der sogenannten “neoliberalen” Kritik am Wohlfahrtsstaat. Die Lehrbücher der Finanzwissenschaft wurden neu geschrieben und sahen den aktiven Staat immer mehr als Quell aller möglichen Ineffizienzen. Berühmt wurde die Laffer-Kurve, die versprach, dass Steuersenkungen durch Investitionsanreize zu Mehreinnahmen führen würden.
Allerdings sanken die amerikanischen Staatseinnahmen, als Ronald Reagan 1981 diesem Argument folgte. Konsumsteuern wurden wieder favorisiert. Und es kam die Wendung vom “Sozialneid” auf, der hinter Gleichheitsversprechen stecke. Nicht soziale Ungleichheit, sondern Missgunst belaste die Gesellschaft. Den Spitzensteuersatz auf Einkommen senkte die CDU/FDP-Koalition trotzdem erst 1987 um 3 Prozent.
Als 1998 erneut die Sozialdemokraten an die Macht kamen, hatten sie im Wahlkampf eine weitere Senkung des Spitzensatzes um 4 Prozentpunkte versprochen. Mit der Rückkehr zum Keynesianismus und einer steuerlichen Umverteilung von oben nach unten wurde es nichts. Steuersenkungen für Topverdiener, Haushaltskürzungen im Sozialbereich, Hartz IV – das war die Bilanz von Gerhard Schröder und seinem Finanzminister Hans Eichel. Mehr und mehr etablierte sich in der Zeit Angela Merkels die Rhetorik, man könne gar nicht umverteilend besteuern, ohne die Wirtschaft abzuwürgen, den Standort zu schwächen und von den Finanzmärkten bestraft zu werden.
Heute werden die Steuererträge vieler großer Länder auf Kosten der Unter- und Mittelschichten konstant gehalten. Die gewinnstärksten zehn Prozent unter den amerikanischen Firmen zahlten zuletzt durchschnittlich 28 Prozent Steuern, der Rest durchschnittlich 41 Prozent. In Deutschland verhält es sich mit der Erbschaftsteuer ähnlich: Die Empfänger der vierzig größten Erbschaften zahlten 2019 ganze 1,8 Prozent Steuern. Vermögensübergänge unter 500 000 Euro, nicht untypisch für den Mittelstand, wurden hingegen mit Sätzen bis zu 45 Prozent besteuert. In der Steuerwelt von heute ist es am schönsten, ein Großkonzern zu sein.
Literatur:
Marc Buggeln: Das Versprechen der Gleichheit. Steuern und soziale Ungleichheit in Deutschland von 1871 bis heute, Berlin (Suhrkamp) 2022.