“Warum Nationen scheitern” von Daron Acemoglu und James A. Robinson ist ein großartiges Buch – aber nicht ohne Schwächen.
Kaum ein Buch dürfte in diesem Frühjahr unter Ökonomen mit größerer Spannung erwartet worden sein als das vorab schon als Meisterwerk annoncierte „Why Nations Fail” von Daron Acemoglu (Massachusetts Institute of Technology) und James A. Robinson (Harvard University). Die beiden renommierten Autoren – Acemoglu ist Träger der Bates-Medaille, die oft als eine Art Vorstufe zum Nobelpreis betrachtet wird – beschäftigen sich nicht aufgeregt mit kurzatmigen Krisenphänomenen, sondern behandeln grundlegende Fragen der Wirtschafts-, ja der gesamten Sozialwissenschaften: Wie erklären sich die zum Teil erheblichen Wohlstandsunterschiede zwischen Ländern? Warum herrscht in manchen Ländern seit langer Zeit wirtschaftlicher Wohlstand, während andere Länder in der Armut verharren? Warum gelingt manchen Ländern ein rascher wirtschaftlicher Aufstieg, anderen aber nicht? Rund 15 Jahre lang haben Acemoglu und Robinson, zum Teil in Kooperation mit weiteren Autoren, an diesem Thema geforscht und in dieser Zeit zahlreiche Aufsätze in Fachzeitschriften veröffentlicht. (Eine Übersicht bietet Acemoglu.) Im Unterschied zu diesen Aufsätzen, die oft durch mathematische und ökonometrische Ausführungen gekennzeichnet sind, beschränken sie sich in ihrem Buch auf eine verbale Darstellung, angereichert durch Landkarten und Grafiken. Die Lektüre des Buches setzt damit keine Vorkenntnisse voraus.
Das Thema ist natürlich nicht neu. Der Ahnvater der modernen Wirtschaftslehre, Adam Smith, hatte bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Bestimmungsgründe wirtschaftlichen Wohlstands in seinem berühmten „Wohlstand der Nationen” behandelt. Smiths Arbeit regte viele Nachfolger an, darunter den Amerikaner Mancur Olson, der im Jahre 1982 das bravouröse Buch „Aufstieg und Niedergang von Nationen” vorlegte. Kann man zu diesem Thema noch Neues schreiben? Man kann, indem man Altes mit Neuem verbindet. Die Kernthesen Acemoglus und Robinsons lauten:
Erstens: Es sind in allererster Linie die politischen Institutionen eines Landes, die über seinen wirtschaftlichen Wohlstand entscheiden. Notwendig erscheint zudem ein gewisses Maß an politischer Zentralisierung; hingegen spielt die Größe eines Landes keine Rolle. Die Geografie und das Klima (wie in Jared Diamonds „Guns, Germs, and Steel”) oder die Kultur (wie in David Landes’ „The Wealth and Poverty of Nations”) entscheiden nicht über wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg. Der Kongo ist nicht arm, weil auf ihn die brennende Tropensonne scheint, und Nordkorea ist nicht arm, weil dort nicht die von Max Weber gepriesenen Calvinisten leben. Ob ein Land rohstoffreich oder rohstoffarm ist, entscheidet ebenfalls nicht über sein wirtschaftliches Schicksal – eine Erkenntnis, die schon vor Jahrzehnten Joseph Schumpeter betont hatte.
Zweitens: Die Bedeutung von Institutionen für den wirtschaftlichen Entwicklungsprozess ist ebenfalls nicht neu, und die beiden Autoren verweisen auch auf Vorläufer wie Douglass North. Acemoglu und Robinson unterscheiden jedoch zwischen zwei Formen von Institutionen, die sie als „extractive” (im Sinne von: ausbeuterisch) und als „inclusive” (im Sinne von: die gesamte Gesellschaft umfassend) bezeichnen. Auf dieser wesentlichen Unterscheidung beruhen alle weiteren Ausführungen des Buches. „Extractive” beschreibt alle politischen – meist oligarchischen – Herrschaftsformen, in denen sich eine kleine Zahl von Menschen über die Ausübung von politischer und wirtschaftlicher Macht zulasten der Masse der Menschen bereichern. In solchen Regimen besitzen die meisten Menschen keine Anreize, sich wirtschaftlich zu engagieren. Diese Regime können zwar vorübergehend wirtschaftliche Fortschritte erzielen, wie etwa die Sowjetunion in ihren ersten Jahrzehnten, aber auf Dauer scheitern sie an ihrer Innovationsfeindlichkeit. Dieses Schicksal sagen die Autoren auch China voraus. „Inclusive” beschreibt die Demokratie als einzige Herrschaftsform und als Voraussetzung für wirtschaftlichen Wohlstand. In einer sich als Bürgergesellschaft verstehenden Demokratie, die nicht de facto durch stabile Eliten beherrscht wird, gestattet der politische Rahmen einer großen Zahl von Menschen die Entfaltung wirtschaftlicher Initiative, indem die Demokratie den Rechtsrahmen für Marktwirtschaft und Wettbewerb schafft, die ihrerseits Innovation und wirtschaftlichen Wandel ermöglichen. Der Weg von der Armut zum Wohlstand setzt die Überwindung oligarchischer politischer Strukturen voraus.
Drittens: Welchen Weg ein Land einschlägt, wird stark von seiner Geschichte vorgegeben, und hier können scheinbar wenig bedeutende Vorkommnisse langwierige Konsequenzen besitzen. Die Arbeitsweise Acemoglus und Robinsons belegt ein längeres Zitat, mit dem sie ihre Ausführungen über die Wohlstandsunterschiede zwischen dem reicheren Westeuropa und dem ärmeren Osteuropa zusammenfassen: „Der Schwarze Tod (gemeint ist die Pestepidemie um das Jahr 1350) und das Wachstum des Welthandels nach 1600 (im Anschluss an die Entdeckung und Kolonialisierung Amerikas) waren beide wichtige kritische Momente für die europäischen Mächte und sorgten zusammen mit unterschiedlichen Institutionen für eine bedeutsame Auseinanderentwicklung. Weil Bauern im Jahre 1346 in Westeuropa mehr Macht und Eigenständigkeit als in Osteuropa besaßen, führte der Schwarze Tod zur Auflösung des Feudalismus im Westen und zu einer zweiten Welle der Leibeigenschaft im Osten. Weil Ost- und Westeuropa im 14. Jahrhundert begonnen hatten, sich unterschiedlich zu entwickeln, besaßen die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten des sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts grundlegend unterschiedliche Folgen für diese Teile Europas.” Acemoglu und Robinson sehen in England die Wiege „inklusiver” Institutionen, weshalb dort auch die industrielle Revolution begonnen habe. Für die Ausbreitung solcher Institutionen im Rest Westeuropas habe dann wesentlich die Französische Revolution beigetragen. In ihrer Neigung zu vergleichenden historischen Analysen wie auch in ihrer Herausstellung historischer Wegmarken sind Acemoglu und Robinson von Barrington Moore Jr. beeinflusst.
Viertens: Die Pfadabhängigkeit der historischen Entwicklung wird durch ein Phänomen gestützt, das der deutsch-italienische Soziologe Robert Michels als „ehernes Gesetz der Oligarchie” bezeichnet hat: Oligarchien besitzen ein starkes Beharrungsvermögen. Acemoglu und Robinson erwähnen unter anderem Guatemala, das sich seit dem Jahr 1531 unter der Kontrolle von rund 20 Familien befinde. In weiten Teilen Schwarzafrikas folgte der Ausbeutung durch Kolonialherren (die mancherorts auf indigene Oligarchien gefolgt waren) die Ausbeutung durch oligarchische Regimes nach der meist um das Jahr 1960 errungenen nationalen Unabhängigkeit. Oligarchien verwandeln sich üblicherweise nicht sanft in Demokratien. Der Weg zu Wohlstand und Demokratie muss meist erkämpft werden. Daher sehen die Autoren in der „Arabellion” (Foto: dpa) eine positive Entwicklung. Kein Vertrauen besitzen sie statt dessen in die Beratung von Oligarchen in armen Ländern durch Experten aus den westlichen Industrienationen, denn die Oligarchen wüssten ganz genau, was sie täten.
Auch unter dem Deckmantel einer formalen Demokratie können sich oligarchische Strukturen lange Zeit konservieren. Die Autoren verwenden unter anderem das Beispiel der amerikanischen Südstaaten, die vor dem Sezessionskrieg (1861 bis 1865), von reichen Pflanzer-Eliten dominiert, wirtschaftlich weit hinter den Nordstaaten zurückgeblieben waren. Nach dem Sezessionskrieg wurde im Süden die Sklaverei abgeschafft, doch die alten Eliten hatten zwar “den Krieg verloren, aber den Frieden gewonnen.” Denn es gelang ihnen, unter anderem durch starke Regulierung des Arbeitsmarktes ihre Dominanz zu bewahren, die dafür sorgte, dass der Süden weiterhin wirtschaftlich generell weit hinter dem Norden blieb, die Pflanzer aber reich blieben. Erst als die Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts endgültig die Macht der alten ausbeuterischen Eliten schleifte, holte der Süden nach den Angaben der Autoren wirtschaftlich auf.
Ihre Grundthese von der erheblichen Bedeutung der politischen Institutionen unterlegen Acemoglu und Robinson mit einer beeindruckenden Fülle von Beispielen aus Zeit und Raum, die hohe Gelehrsamkeit verraten. Ihre Spurensuche beginnt im Jahre 9500 vor Christus und umfasst Länder rund um den Globus. Der Leser erfährt nicht nur, warum die Stadt Nogales in den Vereinigten Staaten reich, die Stadt Nogales in Mexiko aber arm ist. Die Autoren entführen den Leser auch an den Kasai, einen Nebenfluss des Kongo, an dessen westlichem Ufer die traditionell kriegerischen und armen Lele leben, während die Bushong am Ostufer friedlicher und wohlhabender sind. Vergleiche der Entstehung der Minenindustrie in Sierra Leone und in Australien sind ebenso zu finden wie Analysen der Mayas, Inkas oder Venedigs während der Renaissance. Ein englischsprachiger Rezensent hat augenzwinkernd angemerkt, mit der Kenntnis der in diesem Buch enthaltenen historischen Episoden werde man auf jeder Cocktailgesellschaft im Mittelpunkt des Interesses stehen.
Man muss „Why Nations Fail” nicht als Meisterwerk preisen, um das Buch als beeindruckend und höchst anregend zu bezeichnen. Im Unterschied zu den meisten Wirtschaftsbüchern dürfte es nicht rasch in Vergessenheit geraten. Gleichwohl ist auch dieses Buch nicht ohne Schwächen, und diese Schwächen hängen wie so häufig mit seinen Stärken zusammen. Der Sinn jeder sozialwissenschaftlichen Theorie besteht in der Vereinfachung und der Komprimierung. Aber schon Schumpeter, der bekanntlich vom Fache war, hat vor Jahrzehnten die Überzeugung vertreten, eindimensionale Erklärungen komplexer sozialer Phänomene seien trügerisch. Die These, wonach der wirtschaftliche Wohlstand eines Landes durch die politischen Institutionen bestimmt wird und eigentlich durch nichts anderes, klingt verlockend einfach, und sie ist sicherlich nicht falsch. Aber vielleicht ist sie nicht ganz vollständig. Eher nebenbei räumen Acemoglu und Robinson ein, dass die konkrete Ausgestaltung von Institutionen nicht einförmig sei, sondern durchaus auch von Sitten und Gebräuchen abhängen könne. Auch das Eingeständnis, dass Länder mit „extraktiven” Institutionen zumindest vorübergehend – wobei „vorübergehend” mehrere Jahrzehnte umfassen kann – wirtschaftlich erfolgreich sein können, schwächt ihre Argumentation ein wenig ab. “Furthermore, the most economically successful emerging economies of the past five decades were Hong Kong, Singapore, Taiwan and South Korea. In none of these places did rapid development begin under inclusive political institutions, as the thesis would demand”, gibt Martin Wolf (Financial Times) in seiner Rezension zu bedenken.
Der Reichtum an historischen Schilderungen hat bei Rezensenten im englischen Sprachraum Begeisterung wie Kritik geweckt. Die Kritik reicht von methodischen Zweifeln, ob historische Vergleiche über einen Zeitraum von nahezu 12.000 Jahren zulässig seien, bis zu dem Vorwurf, die Autoren hätten nur solche Beispiele angeführt, die in ihre Argumentation passen, aber alle gegenläufige historische Evidenz verschwiegen. So schreibt der bekannte Entwicklungsökonom William Easterley (New York University) in einer Rezension im Wall Street Journal: “The book has two primary flaws. First, Messrs. Acemoglu and Robinson have dumbed down the material too much. (“The first president of the United States, George Washington,” we’re informed, “was also a successful general in the War of Independence.”) Second, they are overly reliant on anecdotes and don’t present more rigorous, statistics-based evidence to support their theories-probably a result of the dumbing-down impulse, since the authors’ own academic work is thoroughly based on just such evidence.”
Unbestreitbar gibt es Patzer bei Details (die spanische Armada wurde überwiegend ein Opfer des Wetters und nicht der britischen Marine), und ein zupackenderes Lektorat hätte dem Leser eine Vielzahl unnötiger Wiederholungen erspart. Insgesamt aber ist „Why Nations Fail” trotz dieser Einschränkungen ein großartiges Buch geworden, das nebenbei durch seinen umfassenden Entwurf wie durch seinen interdisziplinären Ansatz den immer wieder erhobenen Vorwurf widerlegt, dass mathematisch und empirisch hoch versierte Ökonomen nur fernab des breiten Publikums an der 385. Version eines realitätsfremden mathematischen Modells arbeiten.
Update 6.Mai 2012: Eine außerordentlich lesenswerte Zusammenfassung des Denkens Acemoglus liefert auch dieser Aufsatz.
Daron Acemoglu & James Robinson: Why Nations Fail: The Origins of Power, Prosperity, and Poverty. Crown Publishing. New York 2012. 544 Seiten. 30 Dollar
Eine kürzere Version dieser Rezension ist am 10. April 2012 im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.
P.S.: Ein kurzer Nachklapp als Ergebnis eines Gesprächs mit meinem Kollegen Rainer Hank:
Es ist bemerkenswert, wie sehr in der Krise historische Betrachtungen Aufmerksamkeit finden. Neben “Why Nations Fail”, das seinen Weg gehen wird, fallen auf Anhieb “This Time is different” von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff sowie “Debt – The first 5000 Years” von David Graeber ein. Barry Eichengreen wäre auch zu nennen – nicht nur wegen seines Buches “Exorbitant Privilege”. Einen historischen Ansatz verfolgt auch “Violence and Social Orders: A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History” von Douglass C. North, John Joseph Wallis und Barry R. Weingast, ein von Fachleuten hoch gelobtes Werk, das die ihm gebührende Verbreitung möglicherweise (noch) nicht gefunden hat. Wird diese Entwicklung zu einer dauerhaften Renaissance der Wirtschaftsgeschichte führen? Und wie wäre Wirtschaftsgeschichte zu betreiben – eher aus der Sicht von Historikern oder aus der Sicht von Ökonomen oder noch stärker interdisziplinär? Schließlich: Führte eine Renaissance der Wirtschaftsgeschichte zu einer günstigeren Einschätzung der oft verfemten deutschen Historischen Schule des 19. Jahrhunderts um Gustav Schmoller? Diese Themen verdienen einen eigenen Beitrag, sollen hier aber doch schon einmal kurz erwähnt werden.