“Clearly, the ideas developed in this paper are speculative…Whether these ideas contribute to the actual divergent institutional choices among relatively advanced nations is largely an empirical question.” Daron Acemoglu, James Robinson und Thierry Verdier
1. Die Vereinigten Staaten von Amerika und die skandinavischen Länder sind, gemessen an der Wirtschaftsleistung (BIP pro Kopf) im Weltmaßstab reiche Nationen. Aber die Unterschiede sind doch so groß, dass man von unterschiedlichen Ausprägungen des kapitalistischen Modells reden kann. In den Vereinigten Staaten liegt das BIP pro Kopf um 25 bis 30 Prozent höher, die Menschen arbeiten mehr und der Wohlfahrtsstaat ist weniger ausgebaut als in Skandinavien (oder in Deutschland). Die Einkommens- und Vermögensverteilung ist in den Vereinigten Staaten ungleicher; dort gibt es, gemessen am Bevölkerungsanteil, auch mehr arme Menschen. Dafür werden in den Vereinigten Staaten – gemessen an jeweils einer Million Einwohner – sehr viel mehr Patente angemeldet, die für eine größere Innovationskraft der amerikanischen Wirtschaft sprechen.
2. Die moderne Kapitalismusforschung befasst sich unter anderem mit der Frage, ob sich die unterschiedlichen Ausprägungen des Kapitalismus aneinander annähern können. Oder, anders gefragt: Können wir alle Skandinavier werden? Acemoglu (Foto: privat) & Co. sagen: Nein! Als Begründung betonen sie die Rolle von Innovationen in Modellen des Wirtschaftswachstums. Darin breiten sich in einem Lande gewonnene Innovationen über den Globus aus. Da das Wirtschaftswachstum stark durch technischen Fortschritt beeinflusst wird, profitiert die Weltwirtschaft von der Ausbreitung von Innovationen, die in einem Land gewonnen wurden.
3. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die amerikanische Wirtschaft nicht nur mehr Patente generiert, sondern auch die Grenzen der Anwendung von Technologie weiter hinausschiebt als die europäischen Nationen. Um es an einem Beispiel festzuhalten: Die deutsche Industrie verbessert permanent die Qualität deutscher Autos und erzielt damit auch sehr ansehnliche Erfolge. Aber am Ende des Tages bleibt ein Auto in seiner Verwendung ein Auto, ob es nun eine Sitzheizung hat oder nicht. Es handelt sich um graduelle (wenn auch zum Beispiel in Sicherheitsfragen sehr wichtige) Verbesserungen vorhandener Produkte. Aus der amerikanischen Wirtschaft stammen hingegen weite Teile der modernen IT unter anderem mit ihren vielfältigen Anwendungen im Internet. Microsoft, Google und Apple haben nicht einfach lange vorhandene Produkte weiterentwickelt, sondern völlig neue geschaffen, die unsere Welt verändern.
4. Die bahnbrechenden Innovationen aus Amerika breiten sich in einer Welt freien Handels über den Globus und damit auch nach Europa aus. Wir profitieren damit von erstklassiger Technologie, ohne sie mit hohem Aufwand selbst entwickeln zu müssen. Diese Möglichkeit, auf anderswo entwickelte Technologien zurückzugreifen, erspart uns viel Geld und erleichtert es uns in Europa, an unseren Wohlfahrtsstaaten festzuhalten. Dies wiederum reduziert bei uns in Europa die Anreize, sich selbst um Technologieführerschaft zu bemühen. Daraus folgt eine interessante Form von Asymmetrie zwischen den Vereinigten Staaten und Europa: “In particular, innovation incentives by economies at the world technology frontier (i.e. Amerika) will create higher growth by advancing the frontier, while strong innovation incentives by followers (i.e. Europa) will only increase their incomes today since the world technology frontier is already being advanced by the economies at the frontier.” Hier wird ein dynamischer Prozess beschrieben: Die Amerikaner erfinden Technologie A, und während die Europäer dann anfangen, A möglicherweise zu verbessern, verändern die Amerikaner bereits mit Technologie B die Welt.
5. Da die Amerikaner die hohen Pioniergewinne für ihre Innovationen einstreichen, haben sie einen höheren Anreiz, nach weiteren Innovationen zu suchen als die Europäer. Dies setzt aber in den Vereinigten Staaten institutionelle Arrangements voraus, die es den Unternehmern und hochqualifizierten Mitarbeitern erlauben, die hohen Pioniergewinne auch zu realisieren. Dies wiederum geht nach Acemoglu & Co. aber nur, wenn der Staat darauf verzichtet, die materiellen Früchte dieser Pioniergewinne durch hohe Besteuerung zur Finanzierung eines europäischen Wohlfahrtsstaates zu verwenden. Würden die Amerikaner durch einen Wohlfahrtsstaat auf technologische Innovationen verzichten (und könnte sie niemand in dieser Rolle rasch ersetzen), würde das Wirtschaftswachstum in der Welt zurückgehen mit nachteiligen Folgen auch für das amerikanische Wirtschaftswachstum.
6. Beide Typen des Kapitalismus sind in gewisser Weise in ihrem jeweiligen Modell “gefangen”. Die Amerikaner können nicht aus ihrem heraus, aber auch für die Europäer ist es nachvollziehbar, in ihrem zu bleiben, solange sie von der Ausbreitung der amerikanischen Technologien profitieren können.
7. Das Fazit von Acemoglu & Co.: “This logic implies that the world equilibrium – with endogenous technology transfer – may be asymmetric, and some countries will have greater incentive than others. Since innovation is associated with more high-powered incentives, these countries will have to sacrifice insurance and equality. The followers, on the other hand, can best respond to the technology leader’s advancement of the world technology frontier by ensuring better insurance to their population – a better safety net, a welfare state and greater equality.”
Wie das Eingangszitat zeigt, betrachten die Autoren diese These selbst als spekulativ und einer empirischen Überprüfung bedürftig. Aber das Paper ist ein Beispiel für moderne Ökonomik: eine interessante, durchaus politikrelevante These, eine theoretische Formulierung (die Autoren leiten ihre These anhand eines modernen Wachstumsmodells ab) und die Notwendigkeit, Theorie und Empirie zusammen zu führen. Wer behauptet, dass moderne Ökonomik weltfremd und irrelevant sei?