Nein, die japanischen Banken sind nicht die Übeltäter gewesen. Richard Koo schüttelt freundlich, aber entschieden den Kopf. Nach seiner Präsentation in den Räumen der Deutschen Asset und Wealth Management in Frankfurt ist der in Tokio ansässige Ökonom auf die Rolle der japanischen Banken in der langen wirtschaftlichen Stagnation angesprochen worden. In Europa ist in den vergangenen Monaten die Erkenntnis gewachsen, dass schwache, mit Problemkrediten beladene Banken, die sogenannten “Zombiebanken”, einer wirtschaftlichen Erholung im Wege stehen, weil sie keine Kredite vergeben können. Als schlechtes Vorbild für die europäischen “Zombiebanken” gelten in Europa die japanischen Geldhäuser, denen eine wichtige Rolle für die schlechte wirtschaftliche Entwicklung des Landes nachgesagt wird. Zuletzt hat Claudia Buch, Wirtschaftsweise und neue Präsidentin des Wirtschaftsforschungsinstituts IWH in Halle, auf die japanischen “Zombies” verwiesen.
“Hier gibt es leider viele Missverständnisse”, sagt Koo. Denn zum einen seien die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) lange veröffentlichten Daten über die Bestände fauler Kredite in den japanischen Banken falsch gewesen. Koo selbst wies die IWF-Ökonomen auf ihren Fehler hin. Und zum Zweiten zeigten Daten, dass in Japan die Kreditnachfrage durch die Unternehmen früher gefallen sei als das Kreditangebot der Banken. Somit sind es nach Koos Wahrnehmung in erster Linie die Unternehmen gewesen, die für die japanische Wirtschaftsschwäche verantwortlich sind, obgleich jedes Unternehmen für sich rational gehandelt habe. In Koos Konzept der Bilanzrezession spielen Unternehmen eine wesentliche Rolle.
Das Konzept geht von einer volkswirtschaftlichen Banalität aus: Gesamtwirtschaftlich sind Ersparnis und Investition gleich hoch. In einer normalen Welt sparen die privaten Haushalte, während die Unternehmen die Ersparnisse nutzen, um zu investieren. Was aber geschieht, wenn in einer schweren Krise neben den privaten Haushalten auch die Unternehmen sparen? Diese Frage steckt hinter Koos Konzept der Bilanzrezession. Erklären lässt es sich anhand der Grafik, die Japans Entwicklung seit dem Jahre 1981 zeigt. Der Begriff “Finanzieller Überschuss” steht für Ersparnis, “Finanzielles Defizit” für die Verwendung der Ersparnis durch Kreditaufnahme.
Die japanischen Privathaushalte sparen über den gesamten Zeitraum seit 1981, aber besonders interessant sind die Unternehmen. Sie haben sich in den achtziger Jahren stark verschuldet – ein Ausdruck des Immobilienbooms, den Japan damals erlebte. Der Staat spielte keine bedeutende Rolle, ebenso wenig das Ausland. Hier reflektiert ein finanzielles Defizit den Export heimischer Ersparnis ins Ausland – der Kapitalexport finanzierte den Überschuss in der Leistungsbilanz.
Im Jahre 1990 platzte die Immobilienblase. In der Folge reduzierten die japanischen Unternehmen ihre Kreditaufnahmen; seit dem Jahr 1990 sind sie sogar Nettosparer. Das heißt, anstatt Kredite für Investitionen aufzunehmen, reduzieren sie ihre Schulden, um ihre Existenz zu sichern – das ist die eigentliche Bilanzrezession. Nach Koos Ansicht verhalten sie sich in individueller Hinsicht rational; gesamtwirtschaftlich ist das Verhalten aber höchst gefährlich – denn normalerweise verschuldet sich in einer gesunden Wirtschaft der Unternehmenssektor, um Investitionen zu finanzieren.
In diesem Konzept ist die Geldpolitik weitgehend unwirksam – und deshalb wird Koo von den modernen Vertretern der Allmacht der Geldpolitik heftig attackiert. Aber Koo beharrt darauf, dass der Horror der Unternehmen vor einer zusätzlichen Verschuldung sie selbst bei rekordniedrigen Zinsen nicht dazu bewegt, Kredite aufzunehmen, um neu zu investieren. Die geringe Wirksamkeit der Geldpolitik hat zwei Konsequenzen: Sie trägt nicht zu einer kräftigen Konjunkturbelebung bei, wie die Optimisten hoffen. Sie führt aber auch nicht zu einer schlimmen Inflation, wie die Pessimisten fürchten.
Koo geht stattdessen von der starken Ersparnisbildung der Privathaushalte und der Unternehmen aus und fragt: Wer soll diese Ersparnisse für produktive Tätigkeiten verwenden? Es gibt nach dieser Lesart nur zwei Möglichkeiten: Man kann erstens die Ersparnis ins Ausland exportieren, um damit den Verkauf eigener Güter ins Ausland und einen Leistungsbilanzüberschuss anzuregen. Das mögen einzelne Länder tun, aber nicht alle Länder können einen Leistungsbilanzüberschuss ausweisen. Dann bleibt nur noch der Staat übrig: Er muss sich verschulden, um die private Ersparnis aufzunehmen. In Japan ist dies nach 1990 geschehen, und nach Koos Ansicht ist es die wachsende Neuverschuldung gewesen, die Japans Wirtschaftsleistung stabilisiert und verhindert hat, dass das Land in eine schwere Depression gestürzt ist wie die Vereinigten Staaten in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts.
Wer in Koos Sinne nach Parallelen zwischen Japan und Europa suchen will, kann nach Spanien schauen. Hier zeigt die Grafik zwischen 2004 und 2008 die Folgen des Immobilienbooms: Die Unternehmen verschuldeten sich sehr stark, und sogar die privaten Haushalte, die normalerweise Nettosparer sind, wurden für kurze Zeit Nettokreditnehmer. Finanziert wurde diese Verschuldung zum einen durch einen Staat, der sogar vorübergehend Überschüsse bildete – die Annahme, Spanien sei schon immer ein schlimmer Schuldenstaat gewesen, stimmt nicht. Finanziert wurde der Immobilienboom aber vor allem durch das Ausland – sprich: durch erhebliche Kapitalimporte als Spiegelbild des gleichzeitigen Leistungsbilanzdefizits.
Seit dem Ausbruch der Krise im Jahre 2008 sind dramatische Veränderungen sichtbar. Dies betrifft vor allem die Unternehmen, die nunmehr kräftig sparen, um die hohe Verschuldung zu reduzieren: Der “Swing” zwischen 2008 und 2012 beträgt rund 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Gleichzeitig sind die Kapitalimporte verschwunden. Das heißt, die spanische Leistungsbilanz ist nahezu ausgeglichen und das Land im Prinzip in der Lage, sich selbst zu finanzieren. Die Gegenposition zur plötzlich sehr starken Ersparnisbildung der Unternehmen bildet der Staat, der sich in erheblichem Maße neu verschuldet. Die Idee, dass Spanien nunmehr seine Neuverschuldung deutlich reduzieren soll, ist nach Koos Ansicht grundfalsch und wesentlich mitverantwortlich für die Rezession. Da sich Spanien nicht alleine mit Exporten aus der Krise befreien kann, muss nach dieser Interpretation der Staat mit einer hohen Neuverschuldung bereitstehen, die Ersparnisse der Unternehmen aufzunehmen. Ansonsten droht sich die wirtschaftliche Schwäche fortzusetzen – die japanischen Erfahrungen lassen grüßen.
Schließlich ist es ganz interessant, mit Koos Augen auf Deutschland zu schauen. Hier sieht man in den ersten Jahren des vergangenen Jahrzehnts, also etwa zum Zeitpunkt der Hartz-Reformen, eine Bilanzrezession entstehen, denn neben den privaten Haushalten sparten plötzlich auch die Unternehmen. Die damalige Lage wurde aber nicht als Bilanzrezession interpretiert, und so kam es nach Koos Ansicht zu einem Politikversagen. In der Logik des Konzepts der Bilanzrezession hätte eine kräftige staatliche Neuverschuldung gelegen. Stattdessen verstieß Deutschland zwar gegen den Maastricht-Vertrag, die Neuverschuldung blieb nach Koos Ansicht aber viel zu gering.
Stattdessen betrieb die Europäische Zentralbank – was heute in Deutschland oft verdrängt wird – gerade wegen der deutschen Schwäche eine expansive Geldpolitik. Die half Deutschland zwar wenig, weil Geldpolitik in einer Bilanzrezession nicht richtig wirkt, aber sie wirkte im Rest Europas, der noch nicht in einer Bilanzrezession war. Diese unterschiedliche Wirkung der Geldpolitik begünstigte dann auch die unterschiedliche Entwicklung der Lohnkosten in Europa, die heute zu Deutschlands Vorteil ausschlagen. Die Ersparnisse der deutschen Privathaushalte und Unternehmen zu den Zeiten der Bilanzrezession gingen, wie die Kapitalbilanz zeigt, überwiegend ins Ausland und finanzierten dort eine nicht nachhaltige Kreditnachfrage. Nach Koo hat eine damals nicht genügend expansive Finanzpolitik in Deutschland zu den heutigen Problemen Europas beigetragen.
Koos Analysen haben sich in den vergangenen Jahren international stark ausgebreitet. Sie sind nicht unumstritten, vor allem weil viele moderne Ökonomen in Krisen Geldpolitik für wirksam und Finanzpolitik für wenig wirksam halten. Manche oberflächliche Kritik lässt sich zurückweisen. So ist Koo keineswegs Anhänger einer generell lockeren Finanzpolitik und Staatsverschuldung. Er befürwortet Staatsverschuldung ausschließlich in Bilanzrezessionen – Erscheinungen, die seines Erachtens vielleicht alle 70 oder 80 Jahre in einem Land auftreten und anhand des Sparverhaltens der Unternehmen auch leicht identifiziert werden können. Nicht alle Konjunkturkrisen sind Bilanzrezessionen, und nicht in jeder Krise muss daher staatliche Finanzpolitik aktiv werden. Dass Staatsverschuldung auch das Ergebnis staatlichen Missmanagements sein kann, hebt Koo ausdrücklich hervor und nennt das Beispiel Griechenland.
Der Maastricht-Vertrag müsse so verändert werden, dass er die Bekämpfung von Bilanzrezessionen erlaube, fordert Koo. Im Euroraum sollten Vorschriften Großanlegern die Anlage in heimischen Staatsanleihen schmackhafter machen. Auch Strukturreformen befürwortet Koo – aber hier vor allem Reformen, die Unternehmen zu mehr Investitionen veranlassen.