Als der ehemalige Seemann und Sträfling Edmond Dantès in der Rolle des Grafen von Monte Christo nach Paris reist, um sich an seinen Feinden zu rächen, schlägt er sie mit ihren eigenen Waffen. Einer dieser Feinde, die ihn vor langer Zeit als Ergebnis einer Intrige zu Unrecht ins Gefängnis brachten, heißt Danglars. Er hat es vom Rechnungsführer eines Handelsschiffes zu einem erfolgreichen Bankier und dem Titel eines Barons gebracht. Doch Danglars‘ Kasse kann sich nicht mit jener des Grafen von Monte Christo messen und am Ende ist der Emporkömmling entehrt und materiell ruiniert. Kein Wunder, wird ein Kenner der Geschichte des Kapitals sagen: Danglars‘ Vermögen war jungen Datums, das Vermögen des Grafen von Monte Christo wurde dagegen über Jahrhunderte von einer italienischen Familie aufgebaut.
Der Graf von Monte Christo ist eine berühmte literarische Fiktion, aber er ist keineswegs der einzige bekannte Roman aus dem 19. Jahrhundert, in dem die aus vererbten Vermögen entstammende Macht eine bedeutende Rolle spielt. Auch in der sich allmählich herausbildenden ökonomischen Theorie spielten im 19. Jahrhundert das vor allem durch die Industrialisierung entstehende Kapital und seine Verteilung eine bedeutende Rolle. In Europa besaßen vor dem Ersten Weltkrieg die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung zwischen 80 und 90 Prozent der Vermögen. Noch extremer sah die Verteilung aus, wenn man nur das reichste Prozent der Bevölkerung betrachtete: Es besaß damals zwischen 50 und 60 Prozent der gesamten Vermögen.
Das ist lange her, mag man einwenden. Thomas Piketty aber sagt: Das 21. Jahrhundert könnte mit Blick auf die extreme Ungleichverteilung der Vermögen wie das 19. Jahrhundert werden, sofern sich ein paar seit einiger Zeit beobachtbare Trends fortsetzen. Und wie im 19. Jahrhundert könnte eine extreme Ungleichverteilung der Vermögen im 21. Jahrhundert dazu führen, in der öffentlichen Debatte die Legitimation des Kapitalismus in Frage zu stellen.
Piketty, ein in Paris lehrender Ökonom, hat vor einigen Monaten in französischer Sprache ein monumentales Werk über die Vergangenheit und die Zukunft des Kapitals und der Vermögensverteilung veröffentlicht („Le capital aus XXIe siècle“), das im kommenden Frühjahr in einer englischsprachigen Ausgabe erscheinen wird. (Eine kurze englischsprachige Zusammenfassung wichtiger Thesen ist hier.) Piketty sorgte als sehr junger Mann vor gut einem Jahrzehnt mit einer ebenfalls monumentalen Arbeit über die Geschichte der französischen Einkommensteuer für Aufmerksamkeit. Heute, mit Anfang vierzig, zählt er zu den führenden Verteilungsökonomen der Welt. Zusammen mit dem britischen Ökonomen Anthony Atkinson und seinem französischen Landsmann Emmanuel Saez hat Piketty eine einmalige, in kontinuierlicher Weiterentwicklung befindliche Datenbank aufgebaut, mit deren Hilfe sich internationale Vergleiche der Einkommensverteilung über sehr langfristige Zeiträume vornehmen lassen. 1)
Das vorliegende Buch über das Kapital und die Vermögensverteilung ist eine Frucht langjähriger Studien. Seine wesentliche Schlussfolgerung lautet: Ein kapitalistisches Wirtschaftssystem gebiert nicht zwangsläufig einen unabänderlichen Trend in der Verteilung der Vermögen. Karl Marx‘ Vision einer unabänderlichen Konzentration der Vermögen, die schließlich den Kapitalismus per Revolution in die Luft sprengt, ist ebenso unhaltbar wie die in der Mitte des 20. Jahrhunderts existierende Vorstellung, der moderne Kapitalismus begünstige zwangsläufig eine gleicher werdende Vermögensverteilung.
Nein, sagt Piketty, aus einer rein wirtschaftlichen Analyse ist nichts vorbestimmt. Statt dessen entscheidet die Politik wesentlich über die Entwicklung der Vermögensverteilung. Dies zeigt er anhand der seines Erachtens wichtigsten Einflüsse auf die Vermögensverteilung. Der potentiell am stärksten auf eine größere Gleichverteilung wirkende Trend ist die Bildung von Wissen und Fertigkeiten („Humankapital“) möglichst vieler Menschen, das sich im Arbeitsprozess nutzen lässt und zu höheren Arbeitseinkommen führt. Die Verbreitung solchen Wissens wird dann zu einem potentiellen Gleichmacher.
Die segensreiche Wirkung einer solchen Verbreitung lässt sich sehr gut in China betrachten. Das chinesische „Wirtschaftswunder“ beruht nicht zuletzt darauf, dass viele Millionen Menschen Arbeitsplätze besitzen, die letztlich auf der Übernahme von Wissen und Technologie aus den westlichen Industrienationen beruhen. Aber die Entstehung und Verbreitung von Wissen und die wirtschaftliche Nutzung dieses Wissens ist kein rein ökonomischer Prozess; die Politik spielt in vielfacher Hinsicht eine wichtige Rolle: Wirtschaftlich nutzbares Wissen entsteht nicht selten als Ergebnis staatlich geförderter Grundlagenforschung. Der wirtschaftliche Erfolg exportstarker Schwellenländer beruht auf einer politischen Entscheidung für freien Güterhandel. Und schließlich stellt sich die Frage, was mit den Menschen geschehen soll, die als Folge der größeren Wettbewerbsfähigkeit von Schwellenländern ihre Arbeitsplätze in Industrienationen verlieren. Selbst manche liberale Ökonomen sind der Auffassung, dass der Staat eine Rolle beim Aufbau neuen Humankapitals dieser Arbeitslosen spielen sollte.
Die Verbreitung von Humankapital mag zwischen die Wohlstandsunterschiede zwischen Industrienationen und Schwellenländern ein Stück weit einebnen, aber Piketty hat wenig Hoffnung, dass sie zu einer spürbaren Verringerung der Unterschiede in der Vermögensverteilung in den Industrienationen beiträgt. Der Grund ist einfach: Die meisten Beschäftigten, und die Vereinigten Staaten sind hier ein besonders extremes Beispiel, haben vom Wirtschaftswachstum der vergangenen 25 Jahre in Form von Reallohnsteigerungen nichts oder nur wenig mitbekommen. Die Früchte dieses Wirtschaftswachstums haben sich vor allem in sehr starken Steigerungen von Einkommen, Boni und Ruhestandszahlungen sehr gut verdienender Manager niedergeschlagen.
Ob diese zum Teil im zweistelligen Millionenbereich liegenden Zahlungen im übertragenen Sinne „verdient“ waren, ist durchaus umstritten. Im Jahre 2006 sorgte in den Vereinigten Staaten das Buch „Pay without Performance“ von Bebchuk/Fried für Aufsehen. In ihm zeigten die Autoren, dass viele Manager sehr hohe Kompensationen für geringe Arbeitsleistungen erhalten haben und hohe Vergütungen oft das Ergebnis einer Kameraderie von Aufsichtsräten und Vorständen zulasten der Aktionäre gewesen sein mögen.
Eine wachsende Ungleichheit in der Vermögensverteilung leitet Piketty aber nicht nur aus einem geringen Vertrauen in die Verbreitung von Humankapital als Gleichmacher ab. Vielmehr sorgt ein anderer Trend machtvoll für eine immer größere Ungleichheit: Die Ertragsrate auf Sach- und Finanzvermögen ist in vielen Ländern höher als die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Und solange das so ist, hat der vermögenslose Arbeitnehmer (solange er nicht extrem gut verdient) keine Chance, mit den Erträgen der Vermögensbesitzer und ihrer Erben mitzuhalten, selbst wenn diese nicht arbeiten. Dann ist Arbeit im Vergleich zum Vermögensbesitz relativ und dauerhaft benachteiligt – eine nach Ansicht Pikettys langfristig nicht erstrebenswerte Botschaft. Und auch hier spielt die Politik eine Rolle, indem sie aufgerufen ist, einen Beitrag zu einem möglichst hohen Wirtschaftswachstum zu leisten.
Ein interessanter Indikator für die Bedeutung der Kapitaleinkommen im Vergleich zu den Arbeitseinkommen ist das Verhältnis von Kapital (Sach- und Finanzkapital) zum Bruttoinlandsprodukt in Europa. Bis weit ins 19. Jahrhundert erreichte in einem Land wie Frankreich dieses Verhältnis rund 700 Prozent, das heißt, das Kapital war siebenmal so hoch wie das BIP. Damals bestand das Kapital überwiegend aus landwirtschaftlich genutzten Flächen und die Vermögensverteilung war extrem ungleich.
In den europäischen Ländern sank dieses Verhältnis in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts deutlich; im Falle Frankreichs bis auf knapp 400 Prozent. Der wesentliche Grund hierfür waren die Verheerungen der beiden Weltkriege und wirtschaftliche Krise in der Zwischenkriegszeit, die viel Kapital entwerteten. Folgerichtig war auch die Vermögensverteilung weniger ungleich als im 19. Jahrhundert. Piketty zeigt, dass die Bedeutung des Kapitals alleine zwischen 1990 und heute extrem zugenommen hat: Heute liegt das Verhältnis zwischen Kapital und BIP bei über 600 Prozent und die Vermögensverteilung ist wieder sehr viel ungleicher geworden. Der wichtigste Bestandteil des Kapitals ist schon lange nicht mehr landwirtschaftliche Nutzfläche, sondern Immobilieneigentum. 2)
Ob sich diese Trends so fortsetzen werden, ist offen: Vergangenheitsbetrachtung ist eine einfachere Übung als Zukunftsschau. Aber Verteilungsthemen dürften in den kommenden Jahren erheblich an Bedeutung gewinnen. Dann wird es hilfreich sein, über ausführliche Analysen zu verfügen, wie sie von Piketty & Co. erarbeitet werden. Diese Analysen zu schätzen, heißt nicht, zwingend Pikettys Politikempfehlungen zu unterstützen. Denn so sehr Piketty einerseits ein emsiger, auch auf Details achtender Forscher im Stile der französischen Historiker der „Annales“-Schule ist, so ist Piketty in gesellschaftlichen Fragen auch ein typischer französischer Utopist. Im konkreten Fall fordert er unter anderem eine globale, zwischen den einzelnen Ländern abgestimmte Erbschaftsteuer. Dies wird man mit gutem Grund für unrealistisch halten.
Verteilungsdebatten sind nicht immer Neiddebatten. Daron Acemoglu und James Robinson haben im Wirtschaftsbuch des Jahres 2012, „Wie Nationen scheitern“, geschildert, wie der wirtschaftliche Wohlstand in Gefahr gerät, sobald Interessengruppen den Staat kapern. (Hier haben wir das Buch in FAZIT besprochen.) Pikettys Buch gibt Anlass, unter anderem darüber nachzudenken, welche Forderungen an den Staat gestellt werden, falls das Dasein des Rentiers zum gesellschaftlichen Rollenmodell werden sollte.
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1) Eine Arbeit von Piketty/Saez haben wir in FAZIT hier vorgestellt.
2) Es ist hier nicht der Platz für einen Vergleich Europas mit den Vereinigten Staaten, den Piketty vornimmt und der sehr differenziert ausfällt. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass bei einer historischen Betrachtung die Vereinigten Staaten kein homogener Wirtschaftsraum sind bzw. waren. Die alten Nordstaaten waren egalitärer als die Südstaaten (unter anderem, aber nicht nur,wegen der Sklaverei in den Südstaaten).
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version eines Artikels, der am 13. Januar 2014 im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist.
Die bisherigen Beiträge der Reihe “Bücherkiste”:
Bücherkiste (1): Wie uns Ökonomen vom Dunkel ins Licht führen – Anmerkungen zum neuen Buch von Sylvia Nasar
Bücherkiste (2): Ökonomen für jedermann – Eine Reihe im F.A.Z.-Buchverlag nimmt Gestalt an
Bücherkiste (3): Warum Nationen scheitern
Bücherkiste (4): Die Bankenlobby redet Schwachsinn
Bücherkiste (5): Geld hilft selten aus der Armut
Bücherkiste (6): Die Rückkehr der Meister (Smith, Marx, Hayek)