Leendert Pieter de Neufville war ein Mann, wie sich viele Menschen noch heute einen Investmentbanker vorstellen: “Die Einrichtung seines Hauses war dem Vernehmen nach von höchster Qualität, darunter Truhen mit Schubladen aus Walnussholz, ein Salon aus gelber Seide und eine herrliche Gemäldesammlung. Er besaß mehrere Wagen, eine Yacht, ein Landhaus, aber angeblich nicht ein einziges Buch.”
Allerdings war de Neufville kein moderner Investmentbanker, sondern Schöpfer und Leiter des im Jahre 1751 gegründeten Amsterdamer Bankhauses de Neufville Brothers, das in der Finanzkrise des Jahres 1763 eine unrühmliche Rolle spielte. *) Die Krise nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges findet in den einschlägigen Geschichtsdarstellungen kaum eine Erwähnung, aber sie weist beachtliche Parallelen zu modernen Krisen auf, wie die Ökonomen Isabel Schnabel (Universität Mainz) und Hyun Song Shin (Princeton University) in einer vor rund zehn Jahren veröffentlichten Arbeit herausgearbeitet hatten.
Im Siebenjährigen Krieg kämpfte eine Allianz aus Preußen, Großbritannien und Hannover gegen ein Bündnis aus Österreich, Frankreich und Russland. In Mitteleuropa schlugen sich Preußen und Österreich vor allem um Schlesien, während Frankreich und Großbritannien außerhalb Europas um die Rolle der führenden Kolonialmacht kämpften. Als die Mächte erschöpft Frieden schlossen, wurde Nordeuropa von einer Finanzkrise erfasst, die ein zeitgenössischer Beobachter als “eine Pestepidemie, die sich mit rasender Geschwindigkeit von Haus zu Haus ausbreitete”, bezeichnete. Spekulationen und Finanzinnovationen spielten darin keine geringe Rolle. In den verbreiteten historischen Darstellungen zu Finanzkrisen finden die Ereignisse des Jahres 1763 zu Unrecht kaum Beachtung.
Die Kriegsereignisse waren unter anderem in Preußen von einem inflationären Boom begleitet worden, zu dem übermäßige Geldschöpfung, aber auch eine kriegsbedingte Nachfrage nach Gütern beigetragen hatte. “Im Geldhandel, der unter den Merchantbanken immer populärer wurde, oder im Handel mit Rüstungsgütern oder exotischen Produkten aus Westindien konnten große Gewinne erzielt werden”, schreiben Schnabel und Shin. “Allerdings waren diese profitablen Geschäfte auch die riskantesten, da die Volatilität der Preise von Rüstungsgütern und exotischen Produkten besonders hoch war.”
In der Finanzierung preußischer Geschäfte spielten die Finanzplätze Amsterdam und Hamburg eine wesentliche Rolle, da Berlin damals kaum mehr als eine Provinzstadt war. In den reichen Niederlanden war viel anlagebereites Kapital vorhanden, und Amsterdam war lange der führende Finanzplatz Europas gewesen, auch wenn es im 18. Jahrhundert von London herausgefordert wurde.
In der niederländischen Hauptstadt gab es damals drei Gruppen von Finanzhäusern: Die “Händler” waren überwiegend im Handel mit Gütern tätig und betrieben das Bankgeschäft meist nur nebenher. Die “Banker” bestanden aus alteingesessenen Bankhäusern, die ihre Geschäfte während des Siebenjährigen Krieges ausweiteten. Zu ihnen traten die “Spekulanten”, die neu im Markt waren, auf der Suche nach schnellen Gewinnen aggressiv vorgingen und dabei auch vor einer hohen Verschuldung nicht zurückschreckten. Eine Bank war damals vor allem im Zahlungsverkehr, im Geldhandel sowie in der Handelsfinanzierung tätig; ein Einlagen- und Kreditgeschäft mit Privatkunden existierte kaum.
Die Niederlande verfügten über ein hohes Kapitalangebot, Berlin über eine hohe Kapitalnachfrage. Nun mussten beide Seiten zusammenkommen, und das ging vor allem über den Finanzplatz Hamburg, der engere Beziehungen zu Berlin unterhielt als Amsterdam. Direkte Geschäfte zwischen Amsterdam und Berlin waren schwierig, weil die Niederländer den ihnen meist unbekannten Geschäftsleuten an der Spree nicht trauten und es für sie schwierig gewesen wäre, Forderungen im fernen Berlin einzufordern, falls der Kunde zahlungsunfähig oder zahlungsunwillig geworden wäre.
Und wie es in vielen Booms der Fall ist, denen eine tiefe Krise folgt, gab es auch zumindest eine Finanzinnovation, die sich ausbreitete: den heute längst aus der Mode gekommenen Akzeptkredit. Die Grundlage vieler Geschäfte zwischen Unternehmen waren damals Wechsel. Beim Akzeptkredit kaufte eine Bank gegen einen Abschlag (“Diskont”) Wechsel an, die sie mit ihrem guten Namen garantierte und bis zum Laufzeitende auch weiterverkaufen konnte. Diese eigentlich kurzfristigen Kredite wurden in der Regel ohne Probleme verlängert.
Die starke Zunahme der Akzeptkredite blähte die Bilanzsummen der Banken auf, ohne dass dem eine Zunahme des Eigenkapitals gefolgt wäre. Das Verhältnis von Fremdkapital zu Eigenkapital wurde größer und damit, technisch gesprochen, die Hebelwirkung (“Leverage”). Das Gewinnpotential der Banken nahm folglich zu, aber auch das Risiko im Falle einer Krise, die Kunden in die Zahlungsunfähigkeit treiben würde. Gleichzeitig stieg die grenzüberschreitende Vernetzung zwischen den Banken. Die Parallelen zur jüngsten Krise sind offensichtlich.
Ganz vorne dabei waren de Neufville Brothers: Zu Beginn des Krieges waren sie nicht mehr als eine mittelgroße Firma. Während des Krieges katapultierten sie sich jedoch unter die reichsten und angesehensten Amsterdamer Bankhäuser, indem sie die reichen Möglichkeiten der Kriegswirtschaft nutzten. De Neufvilles Bilanz offenbart eine umfangreiche Produktpalette: in der Güterproduktion, dem Güterhandel, der Verschiffung, Versicherungen und anderen Finanzgeschäften. Anfangs waren noch skeptische Stimmen zur raschen Expansion des Bankhauses zu hören, aber mit dem wachsenden Erfolg verwandelte sich Leendert de Neufville in der öffentlichen Wahrnehmung vom Scharlatan zum Finanzgenie. Dazu trug die Erfindung immer neuer Finanzprodukte und -techniken bei, die bald von Konkurrenten nachgeahmt wurden. Schließlich vergab de Neufville Kredite mit einer Laufzeit von nur acht Tagen – für damalige Verhältnisse eine unerhört kurze Frist. Alles schien gut zu laufen.
Dann jedoch geschah etwas Unvorhergesehenes. Viele Banker und Geschäftsleute waren davon ausgegangen, dass sich in Preußen der wirtschaftliche Boom nach Kriegsende fortsetzen würde. Doch im Anschluss an den Frieden im Februar 1763 dauerte es nicht lange, bis Geschäftsleute in ihren Briefen über fallende Preise, unverkäufliche Waren, eine generelle Wirtschaftsschwäche und Knappheit des Geldes berichteten. Preußen führte wie andere deutsche Staaten eine Münzreform durch, um die Inflation zu beenden, und bewirkte damit unter anderem eine Aufwertung seines Geldes gegenüber den Währungen in Amsterdam und Hamburg.
Nun gerieten die Unternehmen auf beiden Seiten ihrer Bilanz unter Druck. Wegen der sinkenden Güterpreise verloren ihre Warenvorräte an Wert, während es gleichzeitig immer schwieriger für sie wurde, neue Kredite zu erhalten. Die Anspannung an den Kreditmärkten zeigte sich an steigenden Zinssätzen in Amsterdam und Hamburg. Die Verspannungen an den Kreditmärkten zwangen Handelsunternehmen und Merchantbanken zu Panikverkäufen ihrer Bestände um nahezu jeden Preis (“fire sales”). Die Preise für Güter wie Zucker oder Getreide brachen ein. Wegen der geringen Erlöse konnten die Händler ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen, und damit erreichte die Krise die Finanzwelt. **)
Am 29. Juli 1763 brachen de Neufville Brothers zusammen. Ein Versuch, die Bank zu retten, scheiterte am Widerstand der alteingesessenen Banken. Daraufhin kollabierten in Amsterdam weitere Geldhäuser, obgleich ihre Geschäftspartner in Hamburg verzweifelt, aber vergeblich eine Stabilisierung versuchten. Nach der ersten Welle von Schließungen in Amsterdam traf die Pleitewelle die Hamburger Banken, von wo sie sich im Anschluss wieder nach Amsterdam verlagerte. Insgesamt brachen mehr als 100 Banken zusammen, die meisten davon in Hamburg.
In den beiden Städten rührte sich die Politik nicht, um den Banken zu helfen. Anders verlief es in Berlin, wo König Friedrich II. einigen Banken zu Hilfe kam. Im Zuge dieser Sanierungen kam unter anderem die dem Bankier Johann Ernst Gotzkowsky, einem Geschäftspartnern de Neufvilles, gehörende Porzellanmanufaktur in den Besitz des Monarchen. Seitdem heißt sie Königliche Porzellan Manufaktur (KPM).
Interessant waren auch die langfristigen Wirkungen. In Amsterdam und in Hamburg brachen zwar viele Banken zusammen, weil der Staat keine Rettungsaktionen unternahm, aber die beiden Finanzzentren erholten sich schnell, und ein Teil der alten Schulden wurde später zurückgezahlt. Dieses Muster spricht für eine vorangegangene vorübergehende Liquiditätskrise und nicht für eine grundlegende Rentabilitätskrise.
Die Vorgänge hinterließen aber unterschiedliche Prägungen: In Amsterdam tat man so, als sei eigentlich nichts geschehen, und erlebte schon im Jahre 1772 die nächste Finanzkrise, die dieses Mal den Aktienmarkt betraf. In Hamburg hingegen hatten die Banken und Händler genug von den Aufregungen des Jahres 1763 und verhielten sich vorsichtig. Die nächste Krise erfasste die Hansestadt daher erst im Jahre 1799.
Dagegen trat Preußen trotz der Rettungen durch Friedrich II. bald in eine schwere Rezession und Deflation ein, hervorgerufen durch die Bankzusammenbrüche in Amsterdam und Hamburg sowie die Münzreform. Zahlreiche Investitionen, deren Finanzierung von Auslandskapital abhängig waren, konnten nicht mehr durchgeführt werden. Viele Unternehmen wurden insolvent und rissen die lokalen Banken mit dreijähriger Verzögerung in den Abgrund: “Viele jener Banken, die den Bankrott im Jahre 1763 gerade noch vermieden hatten, brachen schließlich zusammen.” Leendert Pieter de Neufville reüssierte nicht mehr als Banker. Die Abwicklung seines Hauses zog sich bis zum Jahre 1811 hin.
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*) In Frankfurt existierte seit dem Jahre 1578 ein Bankhaus D & J de Neufville. Die Familie stammt aus der nordfranzösischen Provinz Artois und ist dort seit dem Jahr 1047 nachweisbar. Von Frankfurt ausgehend ließen sich Mitglieder der Familie in mehreren Städten in Europa und Nordamerika nieder, darunter auch in Amsterdam.
**) Die “fire sales” spielten während der jüngsten Finanzkrise in den Monaten nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers eine verheerende Rolle und auch in der europäischen Schuldenkrise ließen sie sich beobachten.
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version eines Artikels, der am 26. Juni 2009 im Finanzmarkt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist.