Einst stand die Dorfwiese, die Allmende, allen Bauern offen. Der unbeschränkte Zutritt führte zur übermäßigen Nutzung. Die Allmende von heute sind die Netze für Verkehr, Energie und Daten. Um ihre knappen Kapazitäten bestmöglich auszuschöpfen, bedarf es kluger Regeln. Von Achim Wambach und Günter Knieps
Achim Wambach (46) ist Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln. Er leitet den Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium und ist Mitglied der Monopolkommission.
Günter Knieps (64) ist Direktor des Instituts für Verkehrswissenschaft und Regionalpolitik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er gehört den Wissenschaftlichen Beiräten beim Bundeswirtschafts- undBundesverkehrsministerium an.
Im Mittelalter stand in vielen Gemeinden die Dorfwiese, die Allmende, den Bauern des Dorfes zur freien Nutzung offen. Der unbeschränkte Zutritt führte dazu, dass die Bauern mehr Vieh auf die Wiese trieben, als es mit dem Ziel einer dauerhaften Nutzung der Weide verträglich gewesen wäre. Unter der Bezeichnung “Tragik der Allmende” ist diese Übernutzung der Gemeindewiesen fester Bestandteil der ökonomischen Grundausbildung geworden.
Die Allmenden von heute sind unsere Netze – das Verkehrsnetz, das Energienetz, Telekommunikationsnetze und das Internet. Die Straßen stehen allen Fahrzeughaltern offen. Für die Nutzung des Stromnetzes wird zwar eine Gebühr erhoben, diese ist jedoch unabhängig vom Ort und Zeitpunkt der Einspeisung oder Ausspeisung. Im Internet gilt der Grundsatz einer “Netzneutralität”, der sicherstellen soll, dass alle Datenpakete gleich behandelt werden. Solange die Netze nicht ausgelastet sind, ist die freie Nutzung unproblematisch – wie bei einer Allmende, auf der noch nicht so viele Kühe stehen, dass eine Überweidung droht. Wenn es aber zu Engpässen kommt, fangen die Probleme an. Bei Engpässen, sei es ein Stau im Straßenverkehrsnetz oder überlastete Strom- oder Telekommunikationsnetze, behindert jeder Nutzer die anderen Nutzer – er übt einen “externen Effekt” aus.
Wie die Bauern im Mittelalter berücksichtigen die Nutzer diesen externen Effekt nicht, wenn sie sich dafür entscheiden, die Allmende zu nutzen. Dies führt zu einer übermäßigen Beanspruchung der Infrastruktur. Staus sind länger, als sie idealerweise sein sollten, Strom wird vermehrt an den falschen Stellen und zu ungünstigen Zeiten in das Netz eingespeist und abgenommen, und im Internet werden zeitsensitive Anwendungen zu häufig durch andere Dienste beeinträchtigt.
Die Allmende ist ein klassisches Thema in der ökonomischen Literatur. Elinor Ostrom erhielt 2009 den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften für ihre Studien zum Umgang der Menschen mit Allmendeproblemen. Die aus weltweiten Beobachtungen zusammengetragenen Lösungsvorschläge haben gemein, dass die Nutzer in der ein oder anderen Form dazu gebracht werden müssen, die Auswirkungen auf andere bei ihrer Entscheidung zur Nutzung der Allmende einzubeziehen. Ökonomen sprechen von der Internalisierung negativer externer Effekte.
Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie hat vor kurzem das Gutachten “Engpassbasierte Nutzerfinanzierung und Infrastrukturinvestitionen in Netzsektoren” veröffentlicht, das sich mit der Tragik der Allmende in den heute bedeutsamen Netzsektoren befasst. Um die Übernutzung der Netze einzudämmen, empfiehlt der Beirat den Einsatz von auslastungsabhängigen Nutzungsentgelten. Auch können Qualitätsdifferenzierungen der Netzinfrastruktur wesentlich zu einer effizienteren Nutzung beitragen.
Beispiel Staumaut im Straßenverkehr
Im Straßenverkehr sind erste Staugebühren praktisch erprobt. In den Vereinigten Staaten wurde durch den im Juli 2012 in Kraft getretenen “Moving Ahead for Progress in the 21st Century Act” die Erhebung einer staubasierten Maut durch den Gesetzgeber ermöglicht. In Europa haben sowohl die City-Maut in London, die im Jahr 2003 eingeführt wurde, wie auch die Stockholmer City-Maut aus dem Jahr 2007 zum Ziel, die Stauprobleme im jeweiligen Innenstadtbereich zu reduzieren. So ist in den ersten sechs Monaten nach der Einführung der City-Maut in London der Verkehr um durchschnittlich 15 Prozent zurückgegangen, die Verkehrsengpässe haben sich signifikant reduziert.
Während um die Pläne einer allgemeinen Pkw-Maut in Deutschland heftig gestritten wird, werden die Vorteile einer speziellen auslastungsabhängigen Maut bislang kaum diskutiert. Dabei erlaubt die Technik längst intelligentere Systeme als eine Straßenvignette. Die satellitengestützte Lastwagen-Maut wurde schon im Jahr 2005 eingeführt. Diese Technologie kann ebenso für eine Pkw-Maut eingesetzt werden, und sie könnte dazu genutzt werden, streckenbezogene und zeitabhängige Gebühren zu erheben. Die Position der Fahrzeuge würde dabei permanent über eine On-Board-Unit mittels GPS-Satellitensignalen erfasst und mittels Mobilfunk an die Zentrale des Mautbetreibers übermittelt. Den Fahrzeugen, die sich auf einer mautpflichtigen Straße befinden, würde die entsprechende Gebühr automatisch berechnet. Neue Gebührenstrukturen sowie der Einbezug weiterer mautpflichtiger Strecken bedürften lediglich einfacher Änderungen der Software. Schon seit der Einführung der Lkw-Maut sind die Kosten für die fahrzeugseitigen Erfassungsgeräte zur Erhebung der Gebühr stark gesunken, und sie werden weiter sinken, wenn auch Personenwagen mit solchen Erfassungsgeräten ausgestattet würden. Die Zukunft liegt hier in der Smartphone-gestützten Mauterfassung (per Smartphone-App), die keine nennenswerten zusätzlichen Kosten verursacht.
Natürlich muss eine nutzungsabhängige elektronische Maut den Schutz persönlicher Daten zuverlässig garantieren. So muss transparent sein, wie auch technisch ein Missbrauch der Daten verhindert wird. Dabei gilt es ähnlich wie bei der Lkw-Maut, die Grundsätze des Datenschutzes konsequent anzuwenden. Beispielsweise müssen die Daten zeitnah gelöscht werden, sobald die Gebühr bezahlt ist.
Beispiel Knotenpreise im Stromnetz
Schon heute treten im Stromnetz vielfach Engpässe auf. Wenn Windanlagen primär im Norden der Republik angesiedelt werden und gleichzeitig der Ausstieg aus der Kernenergie die Erzeugungskapazität im Süden der Republik reduziert, wird zukünftig vermehrt der Bedarf bestehen, Strom von Norden nach Süden zu transportieren. Ohne einen starken Ausbau des Stromnetzes sind Engpässe unvermeidbar, die Probleme werden sich also in absehbarer Zukunft verschärfen.
Es ist innerhalb eines Elektrizitätsnetzes aufgrund physikalischer Gesetze nicht möglich, Strom zwischen einem Einspeise- und einem Ausspeiseknoten zu transportieren, ohne gleichzeitig die Netzauslastung in den übrigen Netzteilen zu beeinflussen. Der Strom sucht sich seinen Weg durch das gesamte Netz. Deshalb verursacht die Ein- und Ausspeisung an einem Netzknoten “Systemexternalitäten”. Die Entscheidung, ob ein Kraftwerk Strom in ein Netz einspeist, sollte deshalb nicht nur von den lokalen Erzeugungskosten abhängen, sondern vielmehr auch die Auswirkungen auf die Engpasssituation im gesamten Netz berücksichtigen.
Bislang werden Engpassprobleme im Stromnetz außerhalb des Strommarkts gelöst. Kraftwerksbetreiber und Stromnachfrager melden am Vortag ihren Bedarf beim Netzbetreiber an. Dabei berücksichtigen sie nicht, ob das Netz diesen geplanten Stromfluss auch transportieren kann. Um die Netzspannung stabil zu halten und einen Netzausfall zu verhindern, kann der Netzbetreiber die Kraftwerke dirigieren. Er kann zum einen einzelne Kraftwerke anweisen, entgegen ihren Plänen nicht zu produzieren. Zum anderen kann er andere Kraftwerke anweisen, Strom zu liefern, obwohl sie dies eigentlich nicht beabsichtigt hatten. Die involvierten Kraftwerke werden für ihre Kooperation im Konzert honoriert, sei es durch eine Kompensation für die Abschaltung oder durch eine Sondervergütung für den gelieferten Strom bei Anschaltung. Die Kosten dafür, die sich im vergangenen Jahr auf 115 Millionen Euro beliefen, werden über die Netzentgelte auf alle Stromnutzer aufgeteilt.
Die bessere Alternative, die sicherstellen würde, dass die Erzeuger und Versorger bereits bei ihrer Entscheidung zum Stromkauf und -verkauf mögliche Engpässe im Netz berücksichtigen, ist die Verwendung von geeigneten auslastungsabhängigen Einspeise- und Abnahmeentgelten. Derzeit stehen dem aber noch gesetzliche Hemmnisse entgegen. Um den Netzbetreibern die Bepreisung von auslastungsabhängigen Kapazitätsengpässen zu ermöglichen, wäre eine Aufhebung von Paragraph 15 (1) der Stromnetzentgeltverordnung notwendig. So könnte gewährleistet werden, dass diejenigen Kraftwerke produzieren, die unter Einbezug der Netzrestriktionen am günstigsten sind. Dann müssten beispielsweise Stromerzeuger eine Gebühr zahlen, wenn sie durch ihre Einspeisung die Engpässe im Netz verschärfen. In grober Form könnte die Berücksichtigung der Netzengpässe durch zwei Preiszonen realisiert werden, die schon ins Gespräch gebracht wurden, falls das Stromnetz von Nord nach Süd nicht verwirklicht werden sollte. Umfassender sind jedoch Konzepte, die auf eine knotenbasierte Bepreisung setzen, bei der an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt die tatsächlichen Stromübertragungskosten angelastet werden, was die jeweilige Auslastung im Netz berücksichtigen würde.
Beispiel Datenvorfahrt im Internet
Der Datentransport im Internet ist traditionell nicht reguliert, sondern wird durch freiwillige Komitee-Lösungen geregelt. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Internet Engineering Task Force (IETF), eine ehrenamtliche, für jedes Individuum offene Vereinigung von Netzwerktechnikern, Anwendern, Geräteherstellern, Netzbetreibern, und Wissenschaftlern. Die Gleichbehandlung aller Datenpakete, das “Best-effort-Prinzip”, wurde als Standard in den frühen Jahren des Internets entwickelt und hat sich dann weltweit etabliert. “Im Internet sind alle Daten gleich zu behandeln”. Dieser Leitsatz einer “best effort”-basierten “Netzneutralität” übersieht allerdings, dass sich mittlerweile viele neuartige Dienste entwickelt haben, die eine hohe Zuverlässigkeit und Zeitsensibilität des Transports der Datenpakete voraussetzen. Dazu gehören Dienste wie die Internettelefonie, Videokonferenzen, Cloud-Dienste, Ferndiagnosen und -operationen im medizinischen Bereich sowie interaktive Videospiele. Diese Dienste werden verhindert, wenn bei Engpässen im Netz alle Datenpakte gleich behandelt werden.
In der Vergangenheit wurde über analoge Telekommunikationsnetze sowie ISDN-Netze telefoniert. Die herkömmliche Vermittlungstechnik über eine Hierarchie von Vermittlungseinrichtungen ist inzwischen ein Auslaufmodell. Überall investieren Telekommunikationsunternehmen seit etwa einem Jahrzehnt intensiv in die VoIP-Technologie (Voice over Internet Protocol), die Telefonieren über das Internet ermöglicht. So plant die Deutsche Telekom die vollständige Umstellung auf “All IP”-Anschlüsse bis 2018. Die herkömmlichen Telefondienste werden durch kombinierte Breitbandangebote ersetzt, die auch einen VoIP-basierten Telefonanschluss beinhalten. In Zukunft wird es keine separaten elektronischen Kommunikationsinfrastrukturen mehr geben. Vielmehr werden alle Dienste, unabhängig davon, ob es sich um Kommunikations- oder Verteildienste handelt, in einem einheitlichen Übertragungsnetz bereitgestellt. Mit solchen “Next Generation Network” wird die gesamte elektronische Kommunikation durchgängig über das “Internet Protocol” (IP) abgewickelt (all IP). Um hochqualitative Sprach- und Videoübertragungen ohne Störungen in einer solchen paketbasierten Netzarchitektur zu ermöglichen, müssen kurzfristige Übertragungsverzögerungen durch sehr hohe Qualitätsstandards vermieden werden. Die Übertragungskapazität muss dafür in unterschiedliche Qualitätsklassen aufgeteilt werden können.
Die EU-Kommission hat zur Netzneutralität im September 2013 eine Verordnung vorgeschlagen. Der Verordnungsentwurf ermöglicht eine gewisse Qualitätsdifferenzierung, indem zwischen Übertragungen im Internet nach dem “Best effort”-Prinzip auf der einen Seite und qualitätsgarantierten Spezialdiensten mit einer Priorisierung des Datenverkehrs auf der anderen Seite unterschieden wird.
Dies kann als ein erster Schritt in die richtige Richtung angesehen werden. Allerdings ist er nicht unproblematisch. Zunächst stellt sich die Frage, ob eine Regulierung überhaupt notwendig ist. Der Wettbewerb auf den Märkten für Internet-Transportdienste erscheint ohne weiteres funktionsfähig. Falls die Aufgabe der Netzneutralität dazu führen würde, dass ein Netzbetreiber eine schlechte Leistung anbieten sollte, würden sich die Endkunden vermehrt von ihm abwenden. Im Wettbewerb sollte es deshalb ausreichen, das Wettbewerbs- und Verbraucherschutzrecht anzuwenden. Inhaltlich bedeutet die Trennung zwischen Spezialdiensten einerseits und dem Internet andererseits eine regulatorische Marktspaltung, die nicht mit einer konsequenten auslastungsabhängigen Bepreisung des Datenpakettransports und einer damit einhergehenden Qualitätsdifferenzierung kompatibel ist.
Die enormen Innovationspotentiale bei den Anwendungsdiensten im Internet können sich nur dann voll entfalten, wenn die hierfür benötigten Anforderungen an eine Qualitätsdifferenzierung beim Datenpakettransport nicht durch eine Regulierung behindert werden. Solange alle Datenpakete gleich behandelt werden, ergeben sich Ineffizienzen, wenn verzögerungssensitive Anwendungen durch verzögerungstolerante Datentransfers beeinträchtigt werden. Daher sollte Preis- und Qualitätsdifferenzierung auf der Basis eines aktiven Verkehrsmanagements seitens der Anbieter von Datenpaket-Transportdiensten im öffentlichen Internet nicht durch eine Netzneutralitätsregulierung behindert werden
Ausbau von Netzinfrastrukturen
Engpässe werden geringer, wenn mehr investiert wird, sie sind aber nicht gänzlich vermeidbar. Eine Netzinfrastruktur, die so groß dimensioniert ist, dass ihre Kapazitätsgrenzen nie erreicht werden, wäre prohibitiv teuer und folglich nicht wünschenswert. Eine Bepreisung von Engpässen würde Anreize zur besseren Nutzung der Infrastruktur setzen und könnte zu einer effizienteren Verwendung der vorhandenen Kapazitäten führen. Wenn die Infrastruktur effizienter genutzt wird, ist zu erwarten, dass sich der Ausbaubedarf reduziert.
In Elektrizitäts- und Telekommunikationsnetzen werden in der Regel die Einnahmen aus auslastungsabhängigen Netznutzungsentgelten zur Finanzierung von Unterhalt und Ausbau der Netzinfrastruktur eingesetzt, weil der Netzbetreiber nicht nur die Verwendung der Netzkapazitäten steuert, sondern auch die Investitionen in die Netzinfrastruktur vornimmt. Würden im Straßenverkehr auslastungsabhängige Netznutzungsentgelte eingeführt, wäre es naheliegend, die Einnahmen aus den Nutzungstarifen zur Finanzierung von Erhalt und Ausbau der Infrastruktur einzusetzen.
Die Tragik der Allmende hat zwar zum Verschwinden der Gemeindewiese geführt, aber die Viehwirtschaft hat davon profitiert, dass die Rechte der Landnutzung klar geregelt wurden. Das Potential der besseren Nutzung der Kapazitäten der “Netz-Allmende” muss noch gehoben werden. Ähnlich wie die Gemeindewiese muss auch die Netz-Allmende über kurz oder lang aufgehoben werden und dem Wettbewerb in den Netzen als grundlegendes Ordnungsprinzip weichen. Nur so kann sich ein innovativer Suchprozess nach Qualitätsdifferenzierung und einer Bepreisung nach Stauexternalitäten entfalten.