Am 30. Mai ist der Weltuntergang: So ging ein beliebtes Karnevalslied aus dem Jahr 1954. An den Gassenhauer erinnert die aktuelle Diskussion, die Starökonomen über die sogenannte säkulare Stagnation führen. Jahre nach der Finanzkrise scheint manchem das immer noch magere Wachstum auf das Gemüt zu schlagen. So geht es offenbar auch dem Harvard-Ökonomen Lawrence Summers, der in den vergangenen Jahren die These der säkularen Stagnation wieder aufgewärmt hat.
Was ist damit gemeint? Schon 1938 argumentierte der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Alvin Hansen: Wenn die Bevölkerung langsamer wächst und die Produktion weniger Kapital erfordert, sinkt die Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern. Vollbeschäftigung werde deshalb nicht mehr erreicht. Hansen irrte sich gewaltig, weil er in der Endphase der großen Depression die wirtschaftliche Dynamik nach dem Zweiten Weltkrieg nicht voraussah.
Summers aber meint, dass Hansens Argumente zu früh ad acta gelegt wurden. Er sieht Japan, wahrscheinlich Europa und womöglich auch die Vereinigten Staaten in einer Situation, in der zu wenig investiert wird, um das Angebot an Sparkapital zu nutzen.
Üblicherweise können solche Ungleichgewichte am Markt nur zeitweise existieren. Der Preis regelt Angebot und Nachfrage. Der Preis fürs Sparen und für Investitionen aber ist der Zins, genauer: der reale, um die Inflation bereinigte Zins. Er müsste fallen, um Sparangebot und Investitionen ins theoretische Gleichgewicht zu bringen – und damit die Wirtschaft zur Vollbeschäftigung.
Der Kern von Summers‘ These der säkularen Stagnation ist aber nun: Mit den heutigen geringen Kapitalrenditen müsse dieser hypothetische Gleichgewichtszinssatz sehr niedrig sein, womöglich sogar negativ. Gleichzeitig ist aber die Inflationsrate aufgrund der geringen Nachfrage sehr niedrig, oder es gibt sogar eine leichte Deflation. Damit liegt der reale, inflationsbereinigte Zins noch höher als gewünscht. Das verschärft das Problem.
Die Geldpolitik verliert in diesem Gedankengang ihre Kraft. Nicht unerwartet fordert Summers ausgedehnte schuldenfinanzierte Investitionsprogramme des Staates, um die Wirtschaft aus dem dauerhaft langsamen Wachstum herauszuführen. Er hat für dieses theoretische Glasperlenspiel scheinbar die Fakten auf seiner Seite. Geringes Wachstum, niedrige Zinsen und niedrige Inflation passen ins Bild.
Die Rocky Mountains einebnen
In einer klugen Widerrede erinnert der frühere Notenbankpräsident Ben Bernanke seinen Kollegen Summers aber an dessen eigenen Onkel, den 2009 verstorbenen Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Samuelson. Bernanke, mittlerweile Forscher an der Brookings Institution in Washington, hat gerade ein Blog eröffnet, auf dem er die Debatte vorantreibt. Samuelson habe ihn am Massachusetts Institute for Technology gelehrt, dass fast jede Investition profitabel sei, wenn für lange Zeit ein negativer Realzins erwartet werde. Es lohne sich dann zum Beispiel, die Rocky Mountains einzuebnen, damit Autos und Züge den zusätzlichen Treibstoff für die steilen Anstiege einsparen könnten. Bernanke hält es mit Samuelson für fragwürdig, dass der Gleichgewichtszins in einer Wirtschaft wirklich für lange Zeit negativ (oder nahe Null) sein könne. Im Kern vertraut er darauf, dass in einer Marktwirtschaft Unternehmer stets Investitionsmöglichkeiten finden und nutzen werden.
Mindestens so wichtig ist Bernankes – nicht ganz neuer – Einwand, dass Summers in einem geschlossenen Land argumentiert. Wenn das Kapitalangebot im Inland nicht durch Investitionen genutzt wird, warum wird das Kapital dann nicht im Ausland investiert? Dann würde die heimische Währung abwerten, der verstärkte Export würde der Stagnation und der Arbeitslosigkeit im Inland entgegenwirken.
Damit Summers recht behielte, müsste demnach schon die ganze Welt in eine säkulare Stagnation verfallen. Ist das wahrscheinlich? Mit Blick auf den Kapitalhunger in Schwellen- und Entwicklungsländern nicht. Zugegebenermaßen fehlt es diesen Ländern oft an funktionsfähigen Kapitalmärkten, um einen größeren Zufluss privaten Kapitals verkraften zu können.
Wie erklärt Bernanke die lange Phase schwachen Wachstums seit der Finanzkrise, wenn er der These der säkularen Stagnation nicht traut? Nach der Finanzkrise mussten überschuldete Unternehmen und Haushalte ihre Bilanzen erst einmal säubern, bevor sie wieder mehr investieren und konsumieren können. Das braucht einfach seine Zeit. Bernanke hofft mit der Federal Reserve, dass diese Anpassung in Amerika allmählich ein Ende gefunden hat.
Der Preis des Wachstums: die Finanzkrise?
Das klingt langweilig im Vergleich zu Summers‘ Argument. Er behauptet, dass Vollbeschäftigung nur noch um den Preis sehr niedriger Zinsen, einer ultra-expansiven Geldpolitik und damit der finanziellen Instabilität und Krisen zu erlangen sei. Als wichtigen Beleg sieht Summers die Jahre von 2002 bis 2007 in Amerika, als sich der Immobilienmarkt durch die expansive Geldpolitik zunehmend überhitzte – um dann zusammenzubrechen und die Welt in eine Finanz- und Wirtschaftskrise zu stürzen.
Nun hat auch Bernanke etwas aufzuwärmen: seine Theorie des globalen Überangebots an Sparkapital („savings glut“), mit der er schon die Niedrigzinspolitik seines Fed-Vorgängers Alan Greenspan rechtfertigte. In den Nullerjahren war es China, das nach dieser These die Welt und gerade Amerika mit Sparkapital überflutete. Heute ist es nach Bernankes Urteil Deutschland mit seinem zunehmenden Exportüberschuss – und damit einem wachsenden Nettokapitalexport in die Welt.
Deutschlands Handelsüberschuss ist ein Problem, titelt Bernanke in seinem Blog und rät, die Binnennachfrage zu stärken, etwa durch mehr Ausgaben für die Infrastruktur. So trifft er sich dann doch mit Summers, der gegen seine säkulare Stagnation ebenfalls schuldenfinanzierte Investitionen empfiehlt. Wie aber reagieren misstrauische Deutsche auf höhere Staatsschulden? Sie sparen noch mehr und tragen ihr Kapital ins Ausland.
Die Musiker, die 1954 den Weltuntergang besangen, nannten sich „Die lustigen Jungs“. Auch das erinnert an unsere Starökonomen.
„Säkulare Stagnation? Nicht in Ihrem Leben“
PS: Auch der unvermeidliche Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, der seit langem mehr als Kommentator der Zeitung „New York Times“ auftritt, hat sich in die Debatte eingeschaltet. Krugman wendet sich gegen Bernankes Argument, dass Kapitalexport ins Ausland ein zu großes Sparangebot im Inland verringern könne. In Japan habe das nicht funktioniert. Trotz niedriger Zinsen habe die Deflation die realen, inflationsbereinigten Zinsen in die Höhe getrieben und damit wenig Anreiz eröffnet, Kapital ins das kaum ertragreichere Ausland zu bringen.
PPS: Auffallend ist an der Debatte, dass Summers und Krugman und eingeschränkt auch Bernanke so stark auf die (gesamtwirtschaftliche) Nachfrageseite fokussiere und die Angebotsseite fast völlig aus dem Auge verlieren. Eine kluge angebotsorientierte Kritik der These der säkularen Stagnation, die noch mehr als Bernanke Vertrauen in den Marktmechanismus hat, hat etwa der Ökonom Joel Mokyr als Buchbeitrag geschrieben. Unter dem Titel „Secular stagnation? Not in your life“ argumentiert Mokyr, dass der technische Fortschritt alle Sorgen über dauerhaft langsames Wachstum hinwegwische. Das mag man als blinden Fortschrittsoptimismus abtun, aber die Geschichte ist voller Beispiele von wirtschaftlicher Weltuntergangsstimmung, die sich als unbegründet herausstellte.
Ben Bernanke: Why are interest rates so low, part 2: Secular stagnation, 31.3.2015.
Ben Bernanke: Why are interest rates so low, part 3: The Global Savings Glut, 1.4.2015.
Ben Bernanke: Germany’s trade surplus is a problem, 3.4. 2015.
Paul Krugman: Liquidity Traps, Local and Global (Somewhat Wonkish), 1.4.2015.
Joel Mokyr: “Secular Stagnation? Not in your life”, in: Secular Stagnation: Facts, Causes and Cures, hrsg. von Coen Teulings und Richard Baldwin, 2014, S. 83-89.
Lawrence Summers: On secular stagnation: Larry Summers responds to Ben Bernanke, 1.4.2015.
Dies ist eine ergänzte Fassung eines “Sonntagsökonoms”, der am 12. April in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschien. Die Illustration stammt von Alfons Holtgreve.
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