Schweden ist ein Vorreiter auf dem Weg in die bargeldlose Gesellschaft. Doch inzwischen formiert sich massive Kritik an dieser Entwicklung. Von Hendrik Mäkeler, Uppsala.
Schweden gilt als das Land Europas, dessen Geldumlauf am stärksten digitalisiert ist. Infolgedessen können Verbraucher und überraschte Touristen ein Busticket nur noch per Kundenkarte, Handy-App oder Kreditkarte bezahlen, nicht aber mit Banknoten oder Münzen. Beim Bäcker weist häufig ein Schild darauf hin, dass selbst Kleinstbeträge möglichst durch Kartenzahlung beglichen werden sollen. Im Uppsalienser Dom steht statt Opferstock ein Spendenterminal, und eine Stockholmer Obdachlosenzeitung hatte alle Mühe, eine Bank ausfindig zu machen, die sich nach langen Verhandlungen noch zur Einzahlung der Bareinnahmen aus den Verkäufen ihrer Straßenhändler bereit erklärte.
In Schweden ist inzwischen eine intensive Diskussion darüber ausgebrochen, ob man diese Entwicklung als fortschrittlich wahrzunehmen habe oder deren Befürworter kurzsichtige Vertreter ihrer persönlichen Interessen seien. Die eine Sichtweise vertritt Björn Ulvaeus, besser bekannt als eines der B im Namen der schwedischen Pop-Gruppe ABBA. Die Band hatte ihre wichtigsten Erfolge in den 1970er Jahren und ist inzwischen zum Gegenstand eines Museums in Stockholm geworden, das Ulvaeus mitbegründet hat. In dem Museum kann nicht mit Bargeld bezahlt werden, was wohl nicht nur als ein Marketing-Gag zugunsten des Hauptsponsors MasterCard zu verstehen ist, sondern gemäß einem Beitrag von Ulvaeus in der schwedischen Wirtschaftszeitung „Dagens Industri“ auch dessen eigener Überzeugung entspricht. Laut Ulvaeus funktioniere das bargeldlose Konzept sehr gut. Nur Deutsche und Russen beschwerten sich lauthals darüber, während schwedische Museumsbesucher den Schritt in die bargeldlose Gesellschaft lobten. Sie hielten die Aufrechterhaltung eines Bargeldsystems für zu teuer, das zudem die Kriminalität fördere und unhygienisch sei.
Eine diametral entgegengesetzte Meinung vertritt Björn Eriksson, der Vorsitzende einer 2013 gegründeten Interessenvereinigung der schwedischen Sicherheitsfirmen. In einer Streitschrift mit dem Titel „Mit offenen Karten“ („Korten på bordet“) setzt Eriksson sich kritisch mit den Argumenten der Befürworter einer bargeldlosen Gesellschaft auseinander. Aus seiner Sicht ist die Bargeldversorgung der Bevölkerung ein grundlegendes demokratisches Recht, dessen Beschneidung gegebenenfalls nicht vom Markt sondern vom Souverän zu entscheiden ist. In dieser Haltung wird Eriksson inzwischen von verschiedenen Organisationen unterstützt, deren Spektrum vom Landesverband der Kleinunternehmer bis zu Interessenvertretern des ländlichen Raums reicht.
Während eine Diskussionsrunde zur Abschaffung des Bargelds im schwedischen Fernsehen bislang nicht zustande kam, da keine Vertreter der Finanzindustrie zur Teilnahme bereit waren, ist die Frage Ende April zum Thema einer Debatte im schwedischen Reichstag geworden. Als Ziel der Regierung wurde in der Folge formuliert, dass alle Schweden Zugang zu Zahlungsmitteln haben sollen, die in erster Linie vom Markt und nicht vom Staat bereitzustellen seien. Firmen, Vereine und Privatpersonen müssten die Möglichkeit haben, Aus- und Einzahlungen von Bargeld bei Kreditinstituten und Zahlungsdienstleistern vorzunehmen. Wo der Markt diese Dienste nicht bereithalte, trage der Staat die Verantwortung für deren Aufrechterhaltung.
Eine Enquete-Kommission des schwedischen Reichstags zur Bargeldversorgung hatte bereits im August 2014 vorgeschlagen, dass die schwedische Reichsbank wieder für die grundlegende Bargeldversorgung zuständig werden solle, die sie 2005 im Rahmen einer umfassenden Deregulierung aufgegeben hatte. Nach der bereits bis 1999 erfolgten Schließung sämtlicher Zweigstellen der Reichsbank waren deren Kunden auf Banken und die Post verweisen worden, um dort ihre Bargeschäfte zu erledigen. Seither sind allerdings die meisten Poststellen ebenfalls geschlossen worden, und die Mehrzahl der Banken hat sich gleichermaßen von ihrem Bargeschäft getrennt. Die Enquete-Kommission gelangte dennoch zu der Ansicht, dass eine umfassende Bargeldversorgung sichergestellt werden könne, ohne Banken und Finanzinstitute zur Annahme von Bargeld zu verpflichten. Wie genau das funktionieren soll, ließ man allerdings offen.
Gegen diese nicht zu Ende gedachten Neuerungen argumentiert Eriksson in seiner Streitschrift an. Logischerweise ist ein Kreditkartenterminal, dessen Tasten alle Kunden an einer Kasse zur Eingabe des Geheimcodes nutzen, wesentlich unhygienischer als Banknoten, sofern sie denn regelmäßig von der Zentralbank erneuert werden. Auch das Argument, Bargeldumlauf fördere Kriminalität, ist nicht haltbar. Vielmehr erhält diese eine ganz andere Dimension; man denke nur an die Betrügereien mit Kreditkarten. Der wesentlichste Unterschied dürfte sein, dass man einem Menschen heute grundsätzlich nicht nur das Geld rauben kann, das er physisch bei sich führt, sondern gleich auch das auf dem Bankkonto sowie bei hinreichendem Kartenkredit auch das, das der Beraubte nicht einmal hat – und zwar ohne dabei von ihm auch nur gesehen zu werden. Was die Kosten für die Aufrechterhaltung einer hinlänglichen Bargeldversorgung anbetrifft, stellt sich die Frage nach den gewiss ebenfalls nicht unbeträchtlichen Kosten für die Bereitstellung eines halbwegs sicheren elektronischen Systems.
Eriksson arbeitet in seiner Schrift sorgsam den zentralen Unterschied zwischen Bargeld und elektronischen Zahlungen heraus: Mit einem digitalen Geldsystem lässt sich für dessen Betreiber Geld verdienen, indem Gebühren für Zahlungen und technische Ausrüstung erhoben werden. Ein Bankkunde, der kein Bargeld mit sich herumträgt und stattdessen eine Kreditkarte verwendet, vergrößert dadurch die Einlagen seiner Bank, was spätestens seit den strengeren Regulierungen der Branche in Folge der Finanzkrise von Bedeutung ist. Bares Geld lässt sich für eine Bank darüber hinaus dadurch einsparen, dass sie kein Bargeld gegen Zinsen von der Zentralbank leihen muss, um es an ihre Kunden ausgeben zu können. Eriksson weist daher sicher nicht zu Unrecht darauf hin, dass wohl weniger die bedrückende Sorge um die Umweltbelastung durch Geldtransporte als vielmehr das legitime Ziel der Gewinnmaximierung dem Streben der Finanzindustrie nach einer bargeldlosen Gesellschaft Antrieb verleiht.
Nicht mehr berücksichtigt ist in der Streitschrift die Einführung von Negativzinsen durch die schwedische Reichsbank im Februar. In einer bargeldlosen Gesellschaft wäre eine Flucht ins Bargeld nicht mehr möglich, wie Schweizer Pensionskassen sie in einem ebenfalls negativen Zinsumfeld erwägen. Der nicht demokratisch legitimierten Erhebung einer Abgabe auf Erspartes stünde damit nicht mehr die Hürde der Nullzinsgrenze im Wege, unterhalb derer Anleger ins Bargeld flüchten. Erikssons Kritik sollte man daher auch in Deutschland beachten. Zwar werden die Bundesbürger in Schweden noch als hartnäckige Opponenten des digitalen Zahlungsverkehrs wahrgenommen, doch zeigen die Untersuchungen der Bundesbank zum Zahlungsverhalten in Deutschland einen schleichenden Bedeutungsgewinn dieser Bezahlform.
Carl-Ludwig Thiele, der im Vorstand der Bundesbank für den baren und unbaren Zahlungsverkehr zuständig ist, betonte bei der Vorstellung der neuesten Untersuchung im März die Neutralität der Bundesbank hinsichtlich der Wahl der Bezahlform. Es ließe sich ergänzen: So selbstverständlich wie die unbeeinflusste Wahl der Bezahlform in der Marktwirtschaft einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung sein sollte, so unabdinglich ist auch die Wahrung einer Wahlmöglichkeit zwischen baren und unbaren Zahlungen.
Zu erinnern ist dabei nur an die Sperrung der Zahlfunktion für Kreditkarten russischer Bürger im Zusammenhang mit den Sanktionen aufgrund des Krieges in der Ukraine oder die Einstellung von Überweisungen an Wikileaks durch zwei große Kartengesellschaften. Selbst wenn man die moralische Berechtigtheit dieser Maßnahmen nicht in Frage stellt, wird man sich doch Gedanken über die Zuverlässigkeit bargeldloser Zahlungssysteme machen – und im Zweifelsfall gemeinsam mit russischen Besuchern über die Kurzsichtigkeit und Fortschrittsgläubigkeit gewisser schwedischer Popmuseen schimpfen.
Einem Historiker mag zudem die rhetorische Frage gestattet sein, ob die Speicherung unseres Besitzes in digitaler Form wirklich weitsichtiger ist und langfristigere Datensicherheit verspricht als das Beschreiben von Tontafeln im alten Mesopotamien – lange bevor der Handel durch die Erfindung des Bargeldes in Kleinasien im 7. Jahrhundert vor Christi Geburt wesentlich erleichtert wurde.
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Dr. Hendrik Mäkeler ist Leiter des Münzkabinetts an der Universität Uppsala. Der vorliegende Beitrag ist in einer kürzeren Version im Finanzteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.
Als Ergänzung: Das Thema Bargeld ist in den vergangenen Wochen im Wirtschafts- und Finanzteil der F.A.Z. auch von Redaktionsmitgliedern mehrfach behandelt worden. Hier sind ein paar Links:
– Ein Schlag gegen das Bargeld in Dänemark
– Der Tod des Bargeldes steht noch nicht bevor
– Wirtschaftsweise streiten über das Bargeld