Es herrscht eine tiefe Kluft zwischen der traditionellen deutschen Vorstellung, nach der die Geldmenge wichtig für die Güterpreisinflation ist, und dem international dominierenden Paradigma, in dem die Geldmenge überhaupt keine Rolle für die Geldpolitik spielt. Wir liefern einen Überblick.
Kontroverse Diskussionen über ökonomische Fragen sind wichtig, um Erkenntnisse zu gewinnen. Voraussetzung ist aber, dass die Teilnehmer in einer Sprache sprechen. In der Geldpolitik ist das womöglich nicht der Fall – vielmehr scheint es so zu sein, dass, dem bekannten Wirtschaftshistoriker Harold James folgend, (keineswegs alle) Ökonomen im deutschsprachigen Raum und einige Chinesen gegen den Rest der Welt stehen: Der große Rest der Welt erkennt dem Geld und der Geldmenge keine Bedeutung für die Güterpreisinflation zu, während die Minderheit meint, die Geldmenge sei enorm wichtig. Das führt in der Praxis dazu, dass in deutschsprachigen Medien Begriffe wie “Geldschwemme”, “Gelddrucken”; “Notenbanken fluten die Märkte mit billigem Geld” und ähnliches häufig verwendet werden, während man derartige Begriffe in angelsächsischen Medien seltener findet. Wie kommt es?
Die Neokeynesianer: Geldpolitik braucht kein Geld
Der große Rest der Welt außerhalb des deutschsprachigen Raumes und der von James zitierten Chinesen lebt seit rund zwei Jahrzehnten überwiegend mit einem gesamtwirtschaftlichen Paradigma, das Neokeynesianismus heißt. Es wird auch an deutschen Universitäten gelehrt und es gibt mit Volker Wieland einen namhaften und international anerkannten Neokeynesianer im Sachverständigenrat, aber die meist älteren deutschen “Lordsiegelbewahrer”, um einen Ausdruck Rüdiger Bachmanns zu gebrauchen, bemühen sich zumindest in der Öffentlichkeit tatkräftig, das zu ignorieren.
Die Entstehung und Ausbreitung der neokeynesianischen Auffassung von Geldpolitik haben wir in unserem FAZIT-Beitrag “Boston gegen die Bundesbank” dokumentiert; hinzugefügt sei, dass ihr herausragender Vertreter in unserer Zeit der amerikanische Ökonom Michael Woodford ist. Was immer man davon hält: Es ist nach wie vor die in den meisten Zentralbanken dieser Welt, in Institutionen wie dem IWF und in den meisten Lehrbüchern dominierende Lehre. Man kann sie kritisieren, aber man darf sie nicht ignorieren.
Um diesen Beitrag nicht zu einer Broschüre ausufern zu lassen, müssen wir jetzt leider etwas Mathematik betreiben. Das neokeynesianische Modell lässt sich in drei Gleichungen zusammenfassen, die ein Grundgerüst bilden und deren Herleitung wir hier aus Platzgründen nicht bringen können. Wir orientieren uns in der Darstellung am Kapitel 4 des Lehrbuches von Peter Spahn und an einem Beitrag von Hans-Helmut Kotz (“Geld und Kredit – konventionell und unkonventionell”) in der Francke-Festschrift; lesenswert ist zum Beispiel auch eine Einführung von Marvin Goodfriend.
Grundlagen des neokeynesianischen Modells
1. Wir haben als Angebotsfunktion für den Gütermarkt einer Volkswirtschaft eine um Erwartungen erweiterte Phillips-Kurve, die Austauschbeziehungen zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit beschreibt. Die Inflationsrate hängt ab von der erwarteten Inflationsrate und der Differenz zwischen dem aktuellen BIP und dem Vollbeschäftigungs-BIP, wobei ein Zusammenhang zwischen BIP und Arbeitsmarkt unterstellt wird. Dadurch, dass die aktuelle Inflationsrate unter anderem von der erwarteten Inflationsrate beeinflusst wird, beeinflusst hier die Zukunft die Gegenwart. Dieser intertemporale Ansatz ist ein wesentliches Merkmal moderner gegenüber vielen alten makroökonomischen Modellen:
p = pe + a(y – y*)
2. Die Nachfrage am Gütermarkt hängt ab vom Vollbeschäftigungs-BIP und dem Verhältnis von tatsächlichem und Vollbeschäftigungs-Realzins. (Andere Einflüsse auf die Güternachfrage wie die Staatsausgaben lassen wir der Einfachheit halber weg.) Veränderungen des Realzinses beeinflussen das Konsum- und Sparverhalten der privaten Haushalte und darüber die gesamte Wirtschaft:
y = y* – b(r – r*)
3. Nun brauchen wir eine Reaktionsfunktion für die Zentralbank, die in diesem Modell den kurzfristigen Realzins setzt. (Die Zentralbank setzt in der Praxis natürlich einen Nominalzins (i), aber beide Zinssätze sind verbunden (i = r + pe )). Die Reaktionsfunktion sieht so aus:
r = r* + c(p – p*) + d(y – y*)
mit:
y = Bruttoinlandsprodukt
p = Inflationsrate
r = Realzins
* = Zielwerte bei Vollbeschäftigung
pe = erwartete Inflationsrate
a,b,c,d = Koeffizienten
Durch eine richtige Zinssetzung sorgt die Zentralbank dafür, dass der Gütermarkt und damit die gesamte Volkswirtschaft in ein Vollbeschäftigungsgleichgewicht gelangen. Zitieren wir Peter Spahn: “Eine stabilisierende Zinspolitik kann die Form einer Reaktionsfunktion annehmen, die aus zwei Kompenenten besteht. Die Notenbank setzt den kurzfristigen Geldmarktzins zunächst so, dass unter Berücksichtigung der laufenden Inflationsrate ein gleichgewichtiger Realzins erreicht wird. Das ist der Zins, bei dem der Güter- und Arbeitsmarkt langfristig geräumt ist; die Höhe dieses Zinses muss theoretisch oder aus empirischer Erfahrung ermittelt werden. Darüber hinaus muss der Notenbankzins auf Abweichungen der Inflation von ihrem Zielwert reagieren.”
Jetzt schauen wir uns noch einmal die Phillips-Kurve an:
p = pe + a(y – y*)
Und wir erkennen, dass die Fed-Vorsitzende Janet Yellen in ihrer jüngsten Grundsatzrede über Inflation (in FAZIT hier behandelt) innerhalb dieses Paradigmas argumentiert. Auf mittlere Sicht spielt der Zustand der Konjunktur (sie erwähnte die Kapazitätsauslastung und den Arbeitsmarkt) eine Rolle. Dies wird durch den Term (y – y*) ausgedrückt. Nimmt man hingegen an, dass langfristig die Wirtschaft ihren Gleichgewichtszustand bei Vollbeschäftigung erreicht (y = y*), wird die aktuelle Inflationsrate ausschließlich durch die erwartete Inflationsrate pe bestimmt! Auch darauf wies Yellen hin. Die Erwartungssteuerung durch die Geldpolitik wird damit ein zentrales Thema und dementsprechend finden Inflationserwartungen an den Finanzmärkten auch große Aufmerksamkeit.
Bleibt eine Frage: Geht das wirklich ohne Geld? Im neokeynesianischen Modell existiert explizit kein Geld und daher spielt auch die Geldmenge keine Rolle. Entscheidend ist der Nominalzins, den die Zentralbank setzt. Aber implizit enthält auch dieses Modell Geld, denn der Nominalzins ist jener Zins, der den explizit nicht genannten, aber implizit enthaltenen Geldmarkt ins Gleichgewicht bringt. Der Geldmarkt mit Geldnachfrage und Geldangebot ist da, aber er ist geldpolitisch und makroökonomisch irrelevant. Spahn schreibt: “Die Geldmenge taucht weder in der Angebots- noch in der Nachfragegleichung auf und hat folglich keinen direkten Einfluss auf die beiden endogenen Makrovariablen p und y. Nach Lösung des Modells könnte man die gleichgewichtige gewünschte Geldmenge aus der Geldnachfragegleichung ablesen. Jedoch ist diese Variable in dem hier betrachteten einfachen Modell ohne Interesse.”
Hilft das Geld mit der Güterpreis-Inflation?
Mithilfe einer Geldpolitik, die sich in der Praxis mehr oder weniger an diesem Modell ausrichtet, ist es gelungen, in den vergangenen Jahrzehnten die Güterpreisinflation nach unten zu schleusen. Tatsächlich sind die Inflationsraten in den Industrienationen seit Jahren so niedrig wie zuletzt vor vielen Jahrzehnten. Gleichwohl kann überlegen, ob eine zusätzliche Betrachtung von Geldmengen, wie es die EZB in ihrer von dem früheren deutschen Chefökonom Otmar Issing entwickelten Zwei-Säulen-Strategie unternimmt, wertvolle zusätzliche Informationen liefert. Damit hat sich Michael Woodford aus neokeynesianischer Sicht im Jahre 2006 auf einer Konferenz der EZB ausführlich auseinandergesetzt. Das zugehörige Paper kann man hier lesen und in Kurzform lautet die Antwort: Nein, die Betrachtung von Geldmengen liefert keine wichtigen zusätzlichen Informationen. (Dieses Resultat stellte Woodford ausgerechnet auf der EZB-Abschiedskonferenz für Issing vor, der immer seine Wertschätzung der Geldmenge als Indikator betont hat.) Im Jahre 2013 zeigten Teles/Uhlig empirisch, dass bei sehr niedrigen Inflationsraten ein Zusammenhang, der von der Geldmenge zum Güterpreisniveau führt, “bestenfalls dünn” ist.
Hilft das Geld mit der Finanzstabilität?
Ist damit alles klar? Offenbar nicht. Seit der EZB-Konferenz im Jahre 2006 hat sich eine schwere Finanzkrise ereignet, als deren Folge das neokeynesianische Modell unter Beschuss geraten ist. Denn ihm fehlten Analysen von Finanzmärkten. Kotz, der die Krise im Vorstand der Deutschen Bundesbank erlebte, wo er unter anderem für Kapitalmärkte zuständig war, erinnert sich in dem oben erwähnten Aufsatz: “Fragwürdig war das Modell aber nicht nur, weil es die heranziehende Finanzkrise nicht diagnostizieren konnte, mithin auch keine gegenwirkenden Maßnahmen entwickeln konnte. Mindestens ebenso kritisch war, dass seine Anwender, da sie keine Probleme zu sehen vermochten, das zügige Gegenhalten, wie es von den Marktoperateuren in den Notenbanken immer nachhaltiger gefordert wurde, eher verlangsamten.”
Seitdem versuchen viele Ökonomen, makroökonomische und finanzökonomische Analysen zu verbinden – über dieses “Macrofinance” getaufte Gebiet schreiben wir in FAZIT recht häufig. (Zum Beispiel hier und hier und hier.) In manchen dieser Analysen taucht auch die Geldmenge wieder auf; aber weniger im Zusammenhang mit der Analyse von Güterpreisinflation, sondern häufiger im Zusammenhang mit Vermögenspreisinflationen und Gefahren für die Finanzstabilität. In diesem Zusammenhang wird auch wieder der Jahrzehnte verschüttete Unterschied zwischen Zentralbankgeld (“outside money”) und Geschäftsbankengeld (“inside money”) herausgearbeitet.
Mittlerweile existieren zahlreiche neokeynesianische Modelle, an die Elemente eines Finanzsektors quasi angeflanscht wurden. So stammt von Benjamin Friedman die Idee, die drei Grundgleichungen des Modells um eine vierte zu ergänzen, in der zwischen dem Zentralbankzins und den Marktzinsen unterschieden wird, weil auf die Marktzinsen unter anderem Ausfall- und Laufzeitprämien einwirken. Ob diese Strategie Erfolg verspricht oder ob das neokeynesianische Modell grundlegender in Frage gestellt werden muss, bleibt vorerst umstritten. Jedenfalls stellte Friedman 2013 mit Blick auf das traditionelle neokeynesianische Modell fest: “The gap between the models and the world of monetary policymaking is now wider than at any time since the 1930s.” Mit dem Erreichen der Nullzinsgrenze in der Praxis haben sich auch Neokeynesianer mit der Frage befasst, ob der Einsatz der Zentralbankbilanz, also von “outside money”, etwa durch Ankäufe von Wertpapieren spürbare Effekte haben kann, aber zumindest Woodford ist sehr skeptisch geblieben. Die Tatsache, dass es Zentralbanken wie der EZB und der Bank of Japan offenbar nur schwer gelingt, trotz umfangreicher Wertpapierankäufe die Inflation zu heben, ist mit der neokeynesianischen Lehre eher vereinbar als mit der Geldmengenlehre.
In der ursprünglichen Frage, ob man Geld zur Erklärung der Güterpreisinflation benötigt, haben zumindest in unserer Welt sehr niedriger Inflationsraten die Neokeynesianer den Sieg über die Geldmengenanhänger davon getragen. Sobald jedoch Fragen der Finanzmärkte und der Finanzstabilität ins Blickfeld geraten, wirken auch die Neokeynesianer angreifbar – daher wollen sie Fragen der Finanzstabilität nicht als geldpolitische Aufgabe verstehen, sondern als Aufgabe einer Regulierungspolitik. In dieser Hinsicht existiert bis heute kein Konsens unter Ökonomen.
In der theoretischen Ökonomik gilt ein klares Prinzip: “It takes a model to beat a model.” Solange kein neues mächtiges Paradigma vorliegt, bleibt das neokeynesianische Paradigma dominierend. Und wer es herausfordern will, braucht mehr als berechtigte Kritik, sondern eine für Ökonomen und Geldpolitiker überzeugende Alternative.