Bibliotheken sind eine herrliche Sache. Seit Jahrhunderten ermöglichen sie Menschen den Zugang zu einer riesigen Auswahl an Büchern, die sie sich niemals alle selbst kaufen könnten. Die Leihgebühr ist gering, der Nutzen für die Leser riesig. Bibliotheken haben aber auch einen Haken. Zumindest aus Sicht der Statistiker, die das Bruttoinlandsprodukt messen – und damit zumindest nach vorherrschender Deutung auch eine Aussage über unseren Wohlstand machen: Die offiziellen Statistiken sind weitgehend blind für den enormen Nutzen der Bibliotheken. Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung erfasst jedes Buch, das in der Bibliothek steht, nur ein einziges Mal, nämlich dann, wenn es angeschafft wird. Es wird so getan, als wäre es egal, ob das Buch von einem oder von Tausenden Menschen gelesen wird. Die Gehälter der Bibliothekare tauchen zwar auch in der Statistik auf, sie fallen aber kaum ins Gewicht.
Na und? Bibliotheken sind ein winziger Wirtschaftszweig, es ist vollkommen egal, ob sie korrekt erfasst werden oder nicht, könnte man einwenden. Lange hat das gestimmt. Doch in einer Zeit, in der sich die ganze Welt mehr oder weniger in eine riesige Bibliothek verwandelt, ist die Frage topaktuell, ob die Statistiken für einen Teil unseres Wohlstands blind sind.
Was ist mit der Behauptung gemeint, dass sich die ganze Welt in eine riesige Bibliothek verwandelt? Es geht darum, dass Menschen Dinge, die sie sich nicht alle auf einmal leisten können oder wollen, für einen gewissen Zeitraum kostengünstig nutzen. Filme und Musik konsumieren sie per Streaming-Dienst, Bohrmaschinen teilen sie sich dank kostenloser Handy-App in der Nachbarschaft. Und wer braucht noch ein eigenes Auto, wenn der Carsharing-Kleinwagen gleich um die Ecke parkt? Hinzu kommt: Im Netz können elementare Dienstleistungen wie Suchmaschinen, Lexika und E-Mails kostenlos genutzt werden. Statistisch hat das paradoxe Folgen: “Während einerseits die Nutzung der neuen Güter nicht in den Produktionsstatistiken erscheint, schlägt sich andererseits dort aber der Produktionsrückgang der früher etablierten Güter vollständig negativ nieder”, schreibt Michael Grömling, Konjunkturchef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln (IW), in einer kürzlich erschienenen Analyse. Auf dem Papier schmilzt also die Bruttowertschöpfung, während die Menschen immer mehr Produkte und Dienstleistungen nutzen können. Dem Nutzer wird es egal sein, aber verzerrte Statistiken sind keine guten Statistiken.
Immerhin haben Ökonomen Vokabeln für das, was da passiert. Die Lücke zwischen dem Preis, den Käufer bereit sind zu zahlen, und dem tatsächlichen Preis nennen sie “Konsumentenrente”. Die Forscher Erik Brynjolfsson vom Massachusetts Institute of Technology und Joo Hee Oh von der Erasmus University in Rotterdam haben im Jahr 2012 geschätzt, wie sich das Bruttoinlandsprodukt in den Vereinigten Staaten verändern würde, wenn die Statistik nicht weitgehend blind für das Internet wäre. Ihr Ergebnis: Je Jahr müsste man 0,3 Prozent draufschlagen. In der größten Volkswirtschaft der Welt entspricht das mehreren hundert Milliarden Dollar.
Die Frage nach der korrekten Vermessung der Wirtschaftskraft ist auch deshalb keine Petitesse, weil sie eng mit einer zentralen ökonomischen Debatte verbunden ist: Die modernen Volkswirtschaften wachsen nur noch langsam, die Produktivität tritt auf der Stelle, von “säkularer” Stagnation ist die Rede. Es gibt viele Vermutungen, warum das so ist. Die Schwäche der Wachstumsstatistik ist ganz sicher nicht der Hauptgrund, aber sie ist ein Puzzleteil, das nicht übersehen werden darf.
Was also tun? Statistiker mussten in der Vergangenheit immer wieder kreativ werden, wenn sich neue Technologien rasend schnell verbreiteten. Computer zum Beispiel wurden dermaßen schnell leistungsfähiger (ohne entsprechende Preissteigerungen), dass die Statistiker nicht hinterherkamen. Deshalb entwickelten sie für Technikprodukte die “hedonische” Messung, mit der Qualitätssprünge zumindest näherungsweise erfasst werden.
Was sich bei der Hardware bewährt hat, ist aber nicht eins zu eins auf Streaming-Dienste, Suchmaschinen und andere digitale Innovationen übertragbar. “Statistiker müssen beginnen, darüber nachzudenken, wie sie die Produktion und den Konsum von ,Informationen’ besser messen können”, fordert Ökonomin Diane Coyle in ihrem Buch “GDP” über die Geschichte des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts. IW-Forscher Grömling beschreibt zwei Möglichkeiten: Solange die veralteten Produkte, die verdrängt werden, noch zu kaufen sind – also einen Marktpreis haben -, könne dieser verwendet werden. “Der Wert der digitalen Leistung wird also über den Wert des entsprechenden Substitutionsgutes berechnet”, schreibt der Forscher. Die Konsumentenrente der Wikipedia-Nutzung entspräche demnach dem Preis für eine gedruckte Brockhaus-Ausgabe.
Zweitens könnte man den wahren Wert des Fortschritts beziffern, indem man berechnet, wie viel jemand in der Zeit verdienen könnte, in der er im Internet surft und dort kostenfrei Angebote nutzt. Grömling: “Auch dieser Opportunitätskostenansatz soll Rückschlüsse auf den Wert der Leistungen und den entsprechenden Konsum liefern.”
Allerdings gibt der Forscher zu bedenken, dass Eingriffe in die Methodik der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung mit Bedacht vorgenommen werden sollten. Denn je mehr solche “modellbasierten” Komponenten in das ausgeklügelte Verfahren aufgenommen werden, desto stärker würden “tatsächliche Beobachtungen und Informationen über messbare Marktaktivitäten” relativ an Bedeutung verlieren. Es muss also abgewogen werden: Wie stark kann man in die Methodik eingreifen, ohne Zweifel an der Objektivität des Verfahrens zu schüren? Und wie stark muss die Statistik andererseits mit der im Alltag zu beobachtenden Realität korrelieren, um nicht jede Bedeutung zu verlieren? Grömling schlägt vor, die mit der digitalen Revolution verbundenen Wohlstandseffekte in einer gesonderten Analyse zu erfassen.
Unabhängig davon dürfen wir nicht vergessen, dass das Bruttoinlandsprodukt aus vielerlei Gründen nicht dazu geeignet ist, unseren tatsächlichen Wohlstand korrekt zu messen. Wie gesund wir sind, wie es um die Umwelt bestellt ist und welche Bildungschancen wir haben, lässt die Kennzahl bestenfalls indirekt erkennen. Es gibt längst ein ganzes Arsenal alternativer Wohlstandsindikatoren, die diese Wohlstandskomponenten berücksichtigen – und damit ganz nebenbei auch den technischen Wandel erfassen: Wenn zum Beispiel kostenlose Gesundheits-Apps dafür sorgen, dass wir länger leben, können alternative Indikatoren das würdigen. Solche Ansätze stärker in den Mittelpunkt zu stellen ist allerdings nicht in erster Linie die Aufgabe von Statistikern, sondern von Politikern und Medien.