Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

It’s the economy, stupid!

In der Diskussion über die Ursachen von „Brexit“ und den Wahlerfolg von Donald Trump gibt es zahlreiche Erklärungsansätze. Doch die Wahlergebnisse selbst und neuere Forschung weisen darauf hin, dass beide Ereignisse in erster Linie Ausdruck einer tiefgehenden ökonomischen Polarisierung sind. Ein Gastbeitrag von David Kunst

 

Das Jahr 2016 wird uns wegen zwei politischen Donnerschlägen in Erinnerung bleiben: Im Juni stimmte eine Mehrheit der britischen Wähler für den Austritt aus der Europäischen Union, und Anfang des Monats bestimmten die Amerikaner Donald Trump zu ihrem nächsten Präsidenten.  Vordergründig unterscheiden sich die Hauptursachen beider Abstimmungsergebnisse voneinander: Hier die traditionelle Europa-Skepsis der Briten, dort das schlechte Bild vieler Amerikaner von Hillary Clinton. Ein Blick unter die Oberfläche fördert jedoch deutliche Parallelen zu Tage. Denn in beiden Fällen galt das Ergebnis vorab als unwahrscheinlich, und in beiden Fällen machte die starke Mobilisierung von Wählern mit geringem Bildungsabschluss am Ende den Unterschied.

Es wäre ein Fehler, sich durch den Verweis auf spezifische Umstände oder kulturelle Entfremdung davon ablenken zu lassen, dass der Zorn dieser Wählergruppe nicht vom Himmel gefallen ist. Denn Ökonomen ist es in den letzten Jahren gelungen, die Verteilungseffekte von drei Makro-Trends der letzten Jahrzehnte zu dokumentieren. Das Ergebnis: Technologischer Wandel, Globalisierung, sowie die Schwächung von Arbeitnehmerrechten haben in den letzten 35 Jahren genau die Wähler benachteiligt, die dieses Jahr für die politischen Erschütterungen gesorgt haben. Um den politischen Polarisierern den Nährboden zu entziehen, müssen gemäßigte Politiker deshalb zuallererst die ökonomische Polarisierung der Gesellschaft bekämpfen.

Zunächst zu den Abstimmungen selbst: Welche Wählergruppen sorgten 2016 für die Überraschungen? Laut den Nachwahlbefragungen eines Zusammenschlusses der großen amerikanischen Medienunternehmen entschied sich eine Mehrheit der Wähler ohne College-Abschluss für Trump, während Clinton die Mehrzahl der Stimmen von Wählern mit einem solchen Abschluss erhielt. Einen Erdrutsch-Sieg erzielte Trump mit 67 zu 28 Prozent unter Weißen ohne College-Abschluss. Von Skeptikern eines ökonomischen Hintergrunds wird oft eingewandt, auch eine Mehrheit der Besserverdienenden habe Trump gewählt. Das stimmt und ist dennoch irreführend, denn der starke Rückhalt des republikanischen Kandidaten in dieser Wählergruppe ist traditionell. Bemerkenswert ist vielmehr, dass Trump unter Weißen ohne College-Abschluss landesweit 14 Prozentpunkte mehr erzielte als Mitt Romney 2012. Diesem Zuwachs verdankt Trump die Überraschungssiege in den mehrheitlich weißen und industriell geprägten Staaten Michigan, Wisconsin und Pennsylvania. Hier hatten die Clinton-Kampagne und Wahlbeobachter einen Sieg von Clinton fest eingeplant, doch Trump siegte hauchdünn mit Vorsprüngen von 0,3 Prozent (Michigan) bis 1,2 Prozent (Pennsylvania). Ein Blick auf das Brexit-Referendum zeigt ein ähnliches Bildungsgefälle: 70 Prozent der Wähler mit lediglich einem Sekundarschulabschluss stimmten für den Austritt aus der EU, während 68 Prozent der Hochschulabsolventen für den Verbleib votierten.

Auch bei den Gründen für die Wahlentscheidung zeigen sich Parallelen: Von den Befragten die angaben, ihre finanzielle Situation habe sich seit den letzten Wahlen verschlechtert, stimmten 78 Prozent für Trump. Zugleich sind Trump-Wähler pessimistischer, was die ökonomischen Perspektiven angeht- eine deutliche Mehrheit der Wähler, die der nächsten Generation schlechtere Lebensumstände vorhersagen, entschied sich für den Republikaner. In Großbritannien gaben 58 Prozent der Brexit-Befürworter an, die Lebensumstände heute seien schlechter als vor 30 Jahren, ein mehr als doppelt so hoher Anteil wie unter den Brexit-Gegnern. Außerdem blickten Brexit-Anhänger ebenfalls sorgenvoll in die Zukunft: 71 Prozent sahen in den gegenwärtigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen vor allem Bedrohungen für ihren eigenen Lebensstandard.

Ein Blick auf die Veränderung der Einkommensverteilungen in den letzten vier Jahrzehnten zeigt, dass die Unzufriedenheit vieler Wähler mit ihrer ökonomischen Situation einen handfesten Hintergrund hat: Während laut einer Studie des amerikanischen Zensus-Büros das durchschnittliche Haushaltseinkommen in den USA zwischen 1980 und 2015 um 37 Prozent zunahm, wuchs das Medianeinkommen – das Einkommen eines Haushalts in der Mitte der Einkommensverteilung – nur um 16 Prozent. Betrachtet man den Zeitraum seit 2000, sank es sogar leicht- ebenso wie die Einkommen der Haushalte weiter unten in der Einkommensverteilung. Auch in Großbritannien hat die Einkommensungleichheit seit 1980 zugenommen, und das Medianeinkommen stagniert seit 2000. Trotz Wirtschaftswachstums machten also zahlreiche Menschen tatsächlich die Erfahrung, wirtschaftlich abgehängt zu werden. Die Arbeit des Ökonomen Branko Milanovic zeigt, dass ähnliche Entwicklungen auch in vielen anderen OECD-Ländern stattgefunden haben.

Was also steckt hinter der Malaise vieler Arbeitnehmer ohne Hochschulabschluss? Überzeugende, zum Teil neue Forschungsergebnissen verweisen auf drei Faktoren: Technologischen Wandel, Globalisierung, sowie die Schwächung von arbeitnehmerfreundlichen Institutionen. Zunächst zum technologischen Wandel: Eine Gruppe von Ökonomen um den MIT-Professor David Autor veröffentlichte bereits 2003 die Vermutung, dass die Digitalisierung in den Vereinigten Staaten Arbeitnehmer ersetzt, die Routinearbeit verrichten. Solche Arbeit – beispielsweise in Fabriken, aber auch einfachere Buchhaltungsaufgaben – könne kostengünstiger und ohne Qualitätseinbußen computergesteuert von Maschinen übernommen werden. Interessanterweise seien vor allem Arbeitnehmer mit durchschnittlichem Einkommen von diesem Trend betroffen, während sich geringbezahlte Servicetätigkeiten kaum automatisieren ließen und Hochqualifizierte dank der neuen Technologien noch produktiver würden. Seitdem haben empirische Studien bestätigt, dass die Digitalisierung seit den 1980er Jahren in den Vereinigten Staaten und Großbritannien ebenso wie in zahlreichen anderen OECD-Ländern die Nachfrage nach Arbeitnehmern mit mittlerem Bildungsniveau verringert, und die nach hochqualifizierten Arbeitnehmern erhöht hat. Auch der Niedriglohn-Dienstleistungssektor expandierte vielerorts – allerdings bei stagnierenden Löhnen, auch wegen des zusätzlichen Arbeitsangebots der zuvor aus Routinejobs Verdrängten. Interessanterweise holte Trump laut der Datenanalyse-Website fivethirtyeight in Counties, in denen mehr als die Hälfte der Stellen routine-intensiv sind, im Durchschnitt über 30 Prozent mehr Stimmen als Clinton.

Nun zur Globalisierung, die im amerikanischen Wahlkampf so präsent war wie kaum ein anderes Thema: Trump warb mit dem Versprechen, Freihandelsverträge aufzukündigen, um die Stimmen der Unzufriedenen. Und das Mutterland der Industrialisierung, Großbritannien, verlor in den letzten Jahrzehnten einen größeren Anteil seiner Industrie als andere entwickelte Länder- auch wegen der Konkurrenz durch günstigere Importe. Doch inwiefern ist Freihandel tatsächlich verantwortlich für die Probleme der Trump- und Brexit-Wähler? Auch wenn die ökonomischen Standardmodelle vorhersagen, dass Freihandel zu Lasten von Geringqualifizierten in reichen Ländern gehen kann, waren viele Ökonomen traditionell skeptisch in Bezug auf nennenswerte negative Lohn- und Beschäftigungseffekte: Denn während manche Sektoren im Wettbewerb mit günstigeren Importen schrumpfen, nutzen andere die sich bietenden Exportchancen und wachsen. Außerdem profitieren alle Konsumenten von günstigeren Importgütern. Doch neue Forschung von David Autor mit anderen Koautoren zeigt, dass in den Vereinigten Staaten die rasche Ausweitung des Handels mit China nach dem Beitritt des Landes zur Welthandelsorganisation 2001 starke Auswirkungen auf betroffene lokale Arbeitsmärkte hatte: Löhne und Beschäftigung sanken dort nicht nur in der mit den Importen konkurrierenden verarbeitenden Industrie, sondern wegen der wegbrechenden Nachfrage auch in vielen anderen Branchen. Während die Wohlstandsgewinne durch den zunehmenden Handel breiter gestreut über das gesamte Land anfielen, wurden zahlreiche lokale Arbeitsmärkte also hart getroffen- gerade in den für den Trump-Erfolg entscheidenden Staaten Wisconsin und Michigan, Nummer zwei und drei im Ranking der Staaten nach Beschäftigungsanteil im verarbeitenden Gewerbe. Und auch in Großbritannien fanden Forscher einen starken Zusammenhang zwischen dem Wettbewerb einer Region mit chinesischen Importen und der Zustimmung zum Brexit.

Ein dritter, schon seit den 1990er Jahren gut erforschter Trend ist die Schwächung von Arbeitsmarktinstitutionen, die ebenfalls zu Lasten von Gering- und Mittelverdienern ging. So fand der an der Universität von Kalifornien, Berkeley, forschende David Card heraus, dass in den USA die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft den Lohn von Arbeitnehmern mit geringer formaler Qualifikation signifikant erhöhte. Allerdings sind in den Vereinigten Staaten mittlerweile nur noch 7 Prozent aller Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft gewerkschaftlich organisiert, im Vergleich zu über 20 Prozent im Jahr 1980. Ein Faktor dabei sind Gesetze, die Formen der betrieblichen Mitbestimmung erschweren. Ähnliche Zusammenhänge gelten auch in anderen Ländern: Eine Studie des Internationalen Währungsfonds aus dem vergangenen Jahr ergab, dass zwischen 1980 und 2010 der Niedergang der Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und 18 anderen Ländern die Einkommensungleichheit erhöhte, und zwar unabhängig von technologischem Wandel und Globalisierung. Gerade in den Vereinigten Staaten verdient auch der Mindestlohn Erwähnung: Seit den 1990er Jahren sind zahlreiche empirische Studien zu dem Ergebnis gekommen, dass ein moderater Mindestlohn kaum Beschäftigung kostet, dafür aber die Einkommen von Geringverdienern erhöht. Dies hat auch unter Ökonomen zu einem Bewusstseinswandel geführt. Doch der kaufkraftbereinigte Wert des Mindestlohns ist in den Vereinigten Staaten heute niedriger als 1980 – trotz kräftigen Wirtschaftswachstums über den selben Zeitraum.

Was also folgt aus diesen Betrachtungen? Zunächst einmal die Erkenntnis, dass die zwei großen politischen Erschütterungen dieses Jahres einen klaren ökonomischen Hintergrund haben: Es waren die Verlierer von technologischem Wandel, Globalisierung und institutionellen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, die ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verliehen haben. Bei der Suche nach Erklärungen und Verantwortlichen besteht leider die Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen- denn seien es die Europaskepsis der Briten, Unzulänglichkeiten der Kandidatin Hillary Clinton, oder andere oft genannte Faktoren: Ohne die starke ökonomische Polarisierung der letzten 35 Jahre wären sowohl Brexit als auch Trump kaum denkbar.

Die meisten Ökonomen sind dennoch dagegen, dem technologischen Wandel und der Globalisierung von Seiten der Politik Sand ins Getriebe zu streuen. Der Grund ist, dass beide Trends gesamtwirtschaftlich betrachtet mit hoher Wahrscheinlichkeit den Wohlstand mehren. Anders ausgedrückt gewinnen die gut ausgebildeten, Technologie-affinen Gewinner mehr, als die Verlierer einbüßen- und könnten sich das Einverständnis der Verlierer durch eine entsprechende Umverteilung gewissermaßen “erkaufen”. Doch gerade in den Vereinigten Staaten und Großbritannien ist genau das in den letzten 35 Jahren nicht passiert. Im Gegenteil, die Schwächung von Arbeitsmarktinstitutionen verschlechterte die Lage von Gering- und Mittelverdienern zusätzlich.

Die Folgen davon lassen sich klar an den Einkommensstatistiken ablesen: Laut einer Untersuchung von Branko Milanovic und Janet Gornick ist die Ungleichheit der Markteinkommen der Haushalte – also der Einkommen vor Berücksichtigung von Steuern und Transferzahlungen – in den 19 untersuchten entwickelten Ländern relativ ähnlich. Doch bei der Ungleichheit der verfügbaren Haushaltseinkommen – also der Einkommen nach Umverteilung – sind die Vereinigten Staaten unangefochtener Spitzenreiter, gefolgt von Großbritannien. Brexit und Trump passierten also ausgerechnet in den beiden Ländern, die sich der ökonomischen Polarisierung der letzten Jahrzehnte am wenigsten entgegen lehnen. In den Vereinigten Staaten wurde Clinton zum Verhängnis, dass man ihr nicht zutraute, dies entscheidend zu verändern: Laut Nachwahlbefragungen gehörte die Fähigkeit, “notwendigen Wandel” herbeizuführen, nur für 14 Prozent der Wähler zu den Qualitäten der Kandidatin Clinton-  im Vergleich zu 83 Prozent für Trump. Seriöse Kandidatinnen und Kandidaten links wie rechts der Mitte müssen hier künftig deutlich besser abschneiden.

Die zentrale Herausforderung der kommenden Jahre besteht deshalb darin, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so zu setzen, dass sie einem größeren Anteil der Berufstätigen eine Teilhabe an der Wohlstandsentwicklung zu ermöglichen. Einen Ansatzpunkt für die Diskussion liefern könnten die 15 konkreten Vorschläge zur Verringerung der Ungleichheit, die der Oxford-Ökonom Tony Atkinson in seinem kürzlich in der deutschen Übersetzung erschienenen Buch “Ungleichheit: Was wir dagegen tun können” macht. Stärkere direkte Umverteilung ist dabei eine Möglichkeit, Maßnahmen zur Erhöhung der Markteinkommen von Geringverdienern eine andere. Sicher ist, dass Kreativität und politischer Mut notwendig sein werden, um die in diesem Jahr offensichtlich gewordene Spaltung der Gesellschaft in den Vereinigten Staaten und Großbritannien zu heilen, und Polarisierungstendenzen auch in Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Ländern entgegenzuwirken.


David Kunst hat  internationale Volkswirtschaftslehre in Tübingen und Toulouse studiert und promoviert momentan im Bereich Volkswirtschaftslehre am Tinbergen Institut und der Vrijen Universiteit Amsterdam.