Thomas C. Schelling hat die Logik des atomaren Wettrüstens so gut erklärt wie kein Zweiter: Wer droht, kann damit den Frieden bewahren. Ein Nachruf von Jürgen Kaube
Vor elf Jahren erhielt der soeben verstorbene amerikanische Ökonom Thomas C. Schelling den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Seine Dankesrede war das mustergültige Dokument eines Erkenntnisinteresses. Denn Schelling sprach nicht von sich, nicht über sein Werk oder seinen Werdegang, sondern über einen merkwürdigen historischen Umstand: dass es nach Hiroshima und Nagasaki nie wieder zu einem kriegerischen Einsatz von Atombomben gekommen ist. Das wichtigste Ereignis nach dem Zweiten Weltkrieg, so setzte Schelling ein, war eines, das gar nicht stattfand.
Wie kommt ein Ökonom zu diesem Thema? Als junger Forscher war Schelling in der amerikanischen Regierung unter Harry Truman mit Fragen internationaler Vertragsverhandlungen befasst. Das Ergebnis war 1960 die Abhandlung “The Strategy of Conflict”, in der die Logik des Streits zwischen Gruppen nachgezeichnet wurde, die voneinander abhängig sind. Ab- und Aufrüstungsprozesse, in denen verhandelt, gedroht und ausgetestet wird, wer wie weit zu gehen bereit ist, waren dafür das wichtigste Beispiel. Aber für Schelling waren auch Eheleute, Eltern und Kinder sowie Erpresser und Erpresste oder Kapital und Arbeit Fälle dieser Mischung aus Abhängigkeit und Gegensatz.
Seine Erkenntnisse ließen ihn zum Berater von Stanley Kubrick werden, als dieser “Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben” drehte. Die dort heraufbeschworene Gefahr eines nuklearen Konflikts zwischen den Großmächten war damals gängige Annahme. Der Einsatz von atomaren Waffen, der nach 1945 unterblieb, war von vielen Beobachtern als unausweichlich oder jedenfalls hoch wahrscheinlich vorhergesagt worden. Das Tabu, diese Waffen einzusetzen, wurde auch von einflussreichen amerikanischen Politikern wie John Foster Dulles beklagt. Gab es doch bald nach 1945 Atombomben mit geringerer Sprengkraft als die der sogenannten “konventionellen” Waffen. Aber geringe Größe, so Schelling, war keine Entschuldigung für das Verdammenswerte.
Schon im Korea-Krieg spielte Amerika mit dem Gedanken eines atomaren Einsatzes. Die Unterscheidung “konventionell” und “atomar” sei falsch, hieß es. In Stellungnahmen auf Nato-Konferenzen wurde mitgeteilt, atomare Waffen seien konventionell geworden. In der Taiwan-Krise Mitte der Fünfzigerjahre meinte Präsident Dwight D. Eisenhower, er sehe keinen Grund, zwischen einer Atombombe und einer Gewehrkugel zu unterscheiden.
Schellings eigene Studien gaben Eisenhower insofern recht, als sie es für sinnvoll hielten, so wenigstens zu reden. Wer anderen plausibel machen kann, zu extremen Maßnahmen bereit zu sein, macht Eindruck und lässt sie womöglich zurückschrecken. Man nennt das einen Bluff oder einen erfolgreichen Zug im “Feiglingsspiel”. Um ihn glaubhaft zu machen, so Schelling, sei es oft nötig, Brücken hinter sich abzubrechen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu reduzieren. Der Präsident, der in der Rolle des zu allem entschlossenen Fanatikers überzeugt, erzielt Erfolge, weil die anderen zurückschrecken, da sie wie die Bremer Stadtmusikanten etwas Besseres als den Tod überall zu finden hoffen.
Dennoch blieb das Tabu über dem Atomwaffeneinsatz. 1964 formulierte es Lyndon B. Johnson so: Seit 19 Jahren habe keine Nation es gewagt, “das Atom loszulassen”, weswegen es eine politische Entscheidung allerhöchsten Ranges sei, es dennoch zu tun. In Vietnam unterblieb es ebenso wie in Afghanistan, die Großmächte nahmen selbst in der Auseinandersetzung mit kleineren eher eine Niederlage hin, als den nuklearen Schritt zu tun. Also doch keine einfache Gleichung zwischen Gewehrkugel und Atombombe? Der Einsatz von Schusswaffen wäre sicherlich nicht allerhöchsten politischen Ranges. Aber wieso wird derart viel Federlesens mit den Unterschieden zwischen Waffengattungen gemacht?
Thomas Schellings Antwort hierauf war: Es wird gespürt, dass Atomwaffen einen kriegerischen Konflikt auf eine neue Ebene heben. Das gilt nicht nur für sie, deren Nichtverbreitung im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einem zentralen Moment der politischen Weltordnung geworden ist. Schelling machte darauf aufmerksam, dass es nach dem Einsatz von chemischen Waffen im Ersten Weltkrieg im Zweiten nicht mehr dazu kam. (Allerdings in “kleinen” Kriegen etwa des Nahen Ostens durchaus.) Ähnliche Tabus liegen mitunter auch auf dem Einsatz von Soldaten, wenn es beispielsweise für legitim gehalten wird, dass eine Nation eine andere mit Kampfgerät versorgt – aber nicht mit Truppen, obwohl man hier mit Eisenhower genauso fragen könnte, was denn der Unterschied zwischen einer Gewehrkugel und einem Schützen sei.
Technisch braucht es im Krieg die Kugel wie den Schützen. Es gibt aber Schwellen, die zu überschreiten eine Lage zwischen Konfliktparteien ändert, ohne dass sich dieser Vorgang technisch beschreiben ließe. Schelling stieß hier auf die Bedeutung symbolischer Größen in Konflikten, die sich nicht einfach auf der Ebene der Nützlichkeitskalkulation abbilden lässt. Man kann es auch anders formulieren: Die Ebene der Nützlichkeit, des Kalkulierens von Einsatz und Gewinn, Vor- und Nachteil, hat selbst Voraussetzungen, die in einem maßvollen Umgang miteinander liegen.
Selbst der Krieg kennt, trotz der ungeheuren Opfer, die in ihm gebracht werden, dieses Maß. Wer es missachtet, der kommuniziert, dass er zu allem bereit ist. Er macht es damit wahrscheinlich, dass die Gegenseite ebenfalls alle Brücken hinter sich abbricht. Die Alternative “Alles oder nichts” führt in Situationen gleicher Bewaffnung zum Nichts. Sogar Terroristen, notiert Schelling, würden darum im Besitz einer Atombombe zwischen Destruktion und dem Einfluss abwägen, den sie durch den bloßen Besitz und die Drohung bekämen. Die Bombe, so Schelling, würde aus einer Gruppe in gewisser Weise einen Nationalstaat machen. “Die Drohung ist stärker als die Ausführung”, heißt es im Schach.
Das wichtigste Ereignis, sagte Schelling, sei eines gewesen, das gar nicht stattfand. In seiner Rede zum Dank für den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften kommt das Wort “Wirtschaft” gar nicht vor. Ja, nicht einmal das Wort “Spieltheorie” oder das berühmte “Chicken Game”, das er einst herangezogen hatte, um Abschreckung zu erklären. Tatsächlich verkörperte Schelling zeit seines Lebens eine Denkrichtung, für die an der Ökonomie nicht die Wirtschaft als solche interessant war, sondern das Denken in strategischer Absicht und in Vorteilen. Fast alles, was er erforscht habe, sagte er dem Nachruf in der “New York Times” zufolge einmal, könne auch von jemandem verstanden werden, der nicht den geringsten Schimmer von Spieltheorie besitze. Die Sozialwissenschaften haben einen ihrer größten Analytiker verloren.
Thomas C. Schelling: “An Astonishing Sixty Years. The Legacy of Hiroshima”.