Wir schreiben über Irrtümer des Jahres 2016: In der deutschen Finanzszene sind im zu Ende gehenden Jahr drei ökonomisch nicht haltbare Thesen kursiert. Unter anderem mit Verweis auf die Deutsche Bundesbank lassen sich alle drei Thesen zurückweisen.
1. “Beim Nullzins ist das Geld nichts mehr wert.”
Das ist von den drei Thesen die mit Abstand abwegigste. In Lehrbüchern wie in Veröffentlichungen der Deutschen Bundesbank ist zu lesen, dass sich der Wert des Geldes nach dem bemisst, was man dafür kaufen kann. Oder etwas fachmännischer, in den Worten von Bundesbankpräsident Jens Weidmann: “Das Preisniveau und so den Geldwert stabil zu halten – das ist der vorrangige Auftrag aller Zentralbanken im Eurosystem, auch der Bundesbank.” Bei einer Inflationsrate von nahe Null, also einem stabilen Güterpreisniveau, ist der Geldwert offenbar sehr stabil 1) – aber just in dieser Zeit entstand in der Finanzszene die Idee, das Geld habe bei einem Zins von Null keinen Wert mehr, und durch den Kollegen Bernd Wittkowski von der “Börsenzeitung” wurde diese Obskurität zustimmend in die Medien gebracht. Mindestens ebenso obskur ist die Tatsache, dass diese Obskurität auch von Leuten in der Finanzszene unterstützt wurde, die Sympathien für eine Goldwährung besitzen – obgleich der Zins des Goldes Null ist und nach dieser Logik dann auch das Gold nichts wert wäre. Der Chef-Volkswirt der EZB, Peter Praet, reagierte auf die These der angeblichen Wertlosigkeit des Geldes mit dem öffentlichen Aufruf, Leute mit solchen Ansichten könnten ihr angeblich wertloses Geld ihm geben. Nach meiner Kenntnis ist dies nicht geschehen.
2. “Die deutschen Anleihenrenditen sind alleine das Ergebnis der EZB-Geldpolitik”
Das wird unter anderem gerne von Vermögensverwaltern Kunden erzählt, die über die niedrigen Renditen klagen. Niemand wird bestreiten, dass die Geldpolitik der EZB die deutschen Anleiherenditen beeinflusst, sowohl über die kurzfristigen Finanzierungsbedingungen als auch über ihr Anleihekaufprogramm. Aber:
Erstens ist es seit Jahrzehnten in Theorie und Empirie bekannt, dass besonders die langfristigen Anleiherenditen nicht alleine von der Geldpolitik bestimmt werden, sondern von einer Vielzahl anderer Einflussfaktoren.2) Aber auch hier kann man die Deutsche Bundesbank zitieren, zum Beispiel mit einer Analyse des deutschen Kapitalmarktzinses in den neunziger Jahren: “Demgegenüber hängen die langfristigen Zinsen zumindest auf mittlere Sicht hauptsächlich von gesamtwirtschaftlichen Fundamentalgrößen ab, die nur mittelbar von der Geldpolitik beeinflußbar sind.” Der säkulare Fall der Renditen in den vergangenen Jahrzehnten ist denn auch nicht alleine von der Geldpolitik beeinflusst gewesen. Und zu den Fundamentaldaten in Europa zählt auch die wirtschaftliche Lage in den Vereinigten Staaten.
Damit einhergehend ist zweitens in der Finanzszene der transatlantische Zinszusammenhang in Vergessenheit geraten: Die deutschen Anleihenrenditen werden auch von den amerikanischen beeinflusst und im Extremfall, wie 1994 geschehen, können die amerikanischen Renditen die deutschen in die Höhe ziehen, selbst wenn gleichzeitig die Geldpolitik in Europa lockerer wird. Die Vergangenheit zeigt folgendes Muster: Erst ziehen die amerikanischen Anleiherenditen die europäischen und dann folgt die europäische Geldpolitik der amerikanischen. Seitdem im Herbst 2016 die europäischen Anleiherenditen mit den amerikanischen stiegen und unter anderem Ex-Bundesbankpräsident Axel Weber an den transatlantischen Zinszusammenhang erinnerte, wird er auch in Veröffentlichungen aus der deutschen Finanzszene ab und zu erwähnt.
3. “Die Zinsen/Renditen können nicht steigen, weil dann alles zusammenfällt”
Nicht nur Weber hatte im Herbst davor gewarnt, dass an den Finanzmärkten die Möglichkeiten steigender Zinsen bzw. Renditen unterschätzt würden. Anlässlich der Vorstellung des Finanzstabilitätsberichts 2016 sagte die Vizepräsidentin der Deutschen Bundesbank, Claudia Buch: Im aktuellen makroökonomischen Umfeld besteht die Gefahr, dass Marktteilnehmer Risiken unterschätzen und nicht ausreichend berücksichtigen, dass die Vermögenspreise fallen und die Zinsen steigen können.
Das steht im Widerspruch zu einem von manchen Finanzmarktteilnehmer geäußerten Mantra, nachdem ein “point of no return” überschritten sei und Zinsen nicht mehr steigen könnten, weil dann angeblich alles sofort zusammenbreche. Ökonomisch haltbar sind solche Behauptungen nicht. Zwei Hinweise:
Erstens wird immer wieder der Eindruck erweckt, als Folge eines Zinsanstiegs würden innerhalb kurzer Zeit die Zinslasten hochverschuldeter Länder wie Italiens untragbar. Diese Behauptung übersieht die simple Tatsache, dass die meisten Staatsanleihen in Europa Festzinsanleihen sind und sich höhere Marktzinsen daher fast nur über die jeweiligen Neuemissionen auf die Zinslast wirken, während sich die Zinskosten des Anleihebestands zunächst einmal fast gar nicht ändern. In einem Beitrag für den Finanzteil der F.A.Z. habe ich das kürzlich für Italien beschrieben: “Bis ein Renditeanstieg die Zinskosten eines Staates merklich erhöhte, vergingen Jahre, und auch dann träte dieser Fall nur ein, wenn der Renditeanstieg dauerhaft wäre. Hinzu kommt, dass jetzt auslaufende mittel- und langfristige Anleihen noch in einer Phase höherer Renditen begeben wurden. So trägt eine im Februar 2017 fällige zehnjährige italienische Staatsanleihe einen Kupon von 4 Prozent. Erst im Jahre 2013 fiel die Rendite zehnjähriger italienischer Staatsanleihen unter 4 Prozent; zwischenzeitlich gab es Kupons bis zu 4,75 Prozent. Selbst wenn die aktuellen Renditen noch ein Stück weit stiegen, bliebe der neue Kupon lange Zeit niedriger als der Kupon der Altanleihen, die ersetzt werden – eine Beobachtung, auf die der Chefökonom von Berenberg, Holger Schmieding, hingewiesen hat.” Wie weit die Irritation in der Branche reicht, zeigt sich daran, dass mir ein hochrangiger deutscher Bankmanager in einem persönlichen Gespräch sagte, die Argumentation sei offensichtlich richtig, aber er habe nie vorher so etwas gehört.
Zweitens ist es immer leichter, ein Land für bankrott zu erklären, als eine belastbare und nachhaltige Schuldentragfähigkeitsanalyse zu erstellen. Solche Analysen sind sehr schwierig, weil vor allem bei langfristigen Analysen Änderungen einzelner Parameter wie Inflationsrate, Zinssatz, Wirtschaftswachstum oder Steuersystem eine Rolle spielen. Ich hatte vor einigen Monaten in FAZIT überwiegend theoretisch das Thema angerissen. Oft unterschätzt werden auch Staatsvermögen, die den Staatsschulden gegenüber stehen. Auch die Privatvermögen sind nicht selten erheblich – ein Punkt, den auch die Deutsche Bundesbank hervorgehoben hat: “Angesichts dessen liegt es zunächst nahe, zur Verringerung der Staatsschuld Staatsvermögen im Rahmen von Privatisierungen zu mobilisieren. Darüber hinaus stellt sich aber die Frage, ob in außergewöhnlichen nationalen Notsituationen zusätzlich zu Privatisierungen und herkömmlichen Konsolidierungsmaßnahmen, die auf die langfristige Erwirtschaftung erheblicher Primärüberschüsse zielen, auch vorhandenes privates Vermögen dazu beitragen kann, eine staatliche Insolvenz abzuwenden.”
- Wer es formal möchte: Der Geldwert entspricht dem Kehrwert des Preisniveaus. Je höher das Preisniveau, umso niedriger der Geldwert und umgekehrt.
- Das Thema haben wir in FAZIT häufig behandelt, zum Beispiel hier und hier.