In vielen Ländern ist die Ungleichheit groß. Muss das immer schlecht sein?
Es sind zwei Meldungen aus zwei unterschiedlichen Welten. Die erste stammt aus der vergangenen Woche und betrifft Menschen, die von ihrer Arbeit kaum leben können: Der Mindestlohn in Deutschland steigt in den kommenden beiden Jahren um 51 Cent auf 9,35 Euro je Stunde. Die zweite Nachricht ist ein paar Tage älter und spielt auf der Sonnenseite des Lebens. Die Zahl der Deutschen, die innerhalb eines Jahres mehr als eine Million Euro verdienen, ist zuletzt auf mehr als 19000 Personen gestiegen. Im Schnitt kassieren diese Superverdiener 2,7 Millionen Euro, errechnete das Statistische Bundesamt in Wiesbaden. Die Mindestlöhner ackern und können sich trotzdem kaum etwas leisten; die Millionäre wissen nicht, wohin mit ihrem Geld. Ungerecht, oder?
Wer es sich einfach machen will, antwortet mit “Ja”. Schließlich widersprechen die weit auseinanderklaffenden Einkommen und Vermögen einem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden. Dass die Ungleichheit in den meisten Industrieländern von Jahr zu Jahr noch größer wird (Deutschland war da zuletzt eine Ausnahme), macht die Sache noch schlimmer.
Es gibt allerdings eine zweite mögliche Antwort auf die Gerechtigkeitsfrage. Sie lautet “Ja, aber”, und sie räumt mit dem Mythos auf, dass jede Form von Ungleichheit auch ungerecht ist. Um es mit den Worten der Ökonomen Andreas Peichl, Paul Hufe (beide Ifo-Institut München) und Ravi Kanbur (Cornell University) zu sagen: “Wir erkennen an, dass Ungleichheit nicht per se schlecht ist, sondern die zugrundeliegenden Quellen berücksichtigt werden müssen.” Schließlich habe es beispielsweise positive Auswirkungen, wenn der Nachbar mehr verdient und man sich deshalb selbst mehr ins Zeug legt.
Was an der Ungleichheit ist unfair?
Um die Frage näher zu beleuchten, gehen die drei Forscher in einer neuen Untersuchung zwei Fragen nach: Wie viel der zu beobachtenden Ungleichheit ist tatsächlich unfair? Und wie können wir das messen?
Wer die erste Frage beantworten möchte, muss erst einmal definieren, wie man gute von schlechter Ungleichheit unterscheidet. Nicht gerade das Kerngeschäft von Ökonomen, weshalb sie sich auf bestehende, von Philosophen wie John Rawls erdachte Konzepte berufen. Verkürzt können diese so zusammengefasst werden: Ungleichheit ist zum einen ungerecht, falls die ärmeren (und reicheren) Personen ungleiche Startbedingungen hatten und unverschuldet in die jeweilige Position gekommen sind. Zum anderen ist sie unfair, wenn jemand so wenig Geld zur Verfügung hat, dass er im Alltag kaum über die Runden kommt, also unterhalb der Armutsgrenze liegt.
Das erste Kriterium bezeichnen Fachleute als Chancengerechtigkeit, das zweite als Armut. Über diese Definitionen und Begrifflichkeiten lässt sich zwar trefflich streiten, in der Ökonomie sind sie aber weithin akzeptiert. “In dieser Studie bringen wir die beiden prominenten Gerechtigkeitsprinzipien zum ersten Mal in ein gemeinsames Maß für ungerechte Ungleichheit”, schreiben die Forscher.
Knifflig ist die Frage, wie man das Ausmaß der Ungerechtigkeit messen kann. Schließlich ist es niemandem anzusehen, ob er seinen Porsche fährt, weil er reiche Eltern hat oder weil er sich mühsam hochgearbeitet hat. Die Forscher helfen sich mit umfangreichen Umfragedaten aus 31 europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten. Aus den Zahlenkolonnen geht nicht nur hervor, wie viel jemand verdient, sondern auch sein Geschlecht, seine Herkunft und Hautfarbe sowie der Bildungsstand und Beruf seiner Eltern. Sind Vater und Mutter gebildet, reich und keine Migranten, haben ihre Kinder (vor allem, wenn sie männlich sind) später bessere Verdienstchancen, zeigen etliche Studien. Mit komplizierten mathematischen Verfahren errechnen die Forscher, wie viel der Ungleichheit auf ungleiche Chancen zurückgeht beziehungsweise echte Armut widerspiegelt.
Nur 17 Prozent der Ungleichheit sind ungerecht
Die Antwort ist überraschend: Nur 17,6 Prozent der gesamten Einkommensungleichheit hat der Studie zufolge ihre Ursache darin, dass die Gerechtigkeitsprinzipien verletzt wurden. Oder mit anderen Worten: Menschen verdienen vor allem deshalb unterschiedlich viel, weil sie sich unterschiedlich stark reinhängen. Dass ein Teil der Menschen unter die Armutsgrenze fällt, ändert an dieser Gerechtigkeitsbilanz nichts.
In Europa beobachteten die Forscher deutliche Unterschiede. In Italien, Litauen und Rumänien ist Ungerechtigkeit demnach eine gravierendere Ursache für Ungleichheit. Knapp ein Drittel der gemessenen Ungleichheit geht auf Unfairness zurück. In den Niederlanden (7 Prozent), Finnland (9,3 Prozent) und Norwegen (12,5 Prozent) – alles Länder, in denen die Ungleichheit ohnehin eher gering ist – ist auch der Anteil der Ungerechtigkeit besonders gering, schreiben die Autoren. Auch in Deutschland, wo die Einkommensungleichheit im Jahr der Erhebung (2010) höher war als in Skandinavien, ist die Ungerechtigkeit der Studie zufolge mit einem Anteil von 11,6 Prozent eher gering. Getrieben werde sie hierzulande in erster Linie durch Armut, nicht durch Chancenungerechtigkeit. Für Wirtschaftspolitiker können solche Ergebnisse wichtige Ansatzpunkte für Reformen liefern.
Interessant ist, was die Autoren in den Vereinigten Staaten nachweisen. Dort stieg die Ungleichheit zwischen 1980 und 2015 kontinuierlich an. Bis 1995 lag das allerdings nur sehr selten daran, dass Menschen in Armut verfielen oder wegen ihrer Hautfarbe, ihres Elternhauses oder des Geschlechts benachteiligt wurden. In den zwei Jahrzehnten danach seien jedoch genau diese Dinge der Treiber für die wachsende Ungleichheit gewesen. Die ungerechte Ungleichheit in Amerika sei heute sogar größer als bei den europäischen “Spitzenreitern” Litauen und Italien. Für Ifo-Forscher Peichl liegt auf der Hand, dass die Unzufriedenheit vieler amerikanischer Wähler auch mit der wachsenden Ungerechtigkeit im Land zusammenhängt. Zumal auch frühere Studien das Ende des amerikanischen Traums beschreiben und deutlich machen, dass Ungleichheit nur dann akzeptiert wird, wenn sie unter fairen Bedingungen zustande gekommen ist.
Ihre Ergebnisse sind nicht die allerletzte Wahrheit, räumen die Forscher selbst ein. Das Thema Gerechtigkeit ist zu komplex und zu abhängig von bestimmten Annahmen, um es auf eine einzelne Kennzahl herunterzubrechen. Dennoch: Die Berechnungen ermöglichen einen frischen, differenzierten Blick auf ein viel zu pauschal diskutiertes Problem.