Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Wie reich darf man sein?

 
Es gibt viele Ideen, Reichtum zu begrenzen. Diese hier ist besonders verrückt. Von Jürgen Kaube

Wie reich darf man sein? Das ist eine Sollensfrage. “Normative is where the evidence is bad”, sagte einmal der amerikanische Ökonom Robert Barro, übersetzt etwa: Es kommt Sollen ins Spiel, wenn es an Wissen mangelt. Wir sagen oft, dass etwas nicht sein sollte, weil wir nicht verstehen, warum es so ist, wie es ist. Sollen ist überdies, zumindest auf dem Papier, auch leichter als Wissen.
 
So heißt es beispielsweise, dass es nicht so viel Vermögen in den Händen so weniger Leute geben sollte wie derzeit. Mehr als zweitausend Milliardäre weltweit führte zuletzt die entsprechende Liste des Magazins “Forbes”. Dagegen meldet sich Protest: so viel Kaufkraft und Einfluss in den Händen so weniger. Dass wir sie selber reich gemacht haben, indem wir in ihren Läden eingekauft haben (Jeff Bezos: 112 Milliarden Dollar), ihre Software nützlich fanden (Bill Gates: 90 Milliarden Dollar), ihre Handtaschen schick und ihren Champagner süffig (Bernard Arnault: 79 Milliarden) oder ihre Klamotten preiswert (Amancio Ortega: 77 Milliarden), sagen wir meistens nicht. Zum einen, weil es peinlich ist, gegen den Reichtum von Leuten zu protestieren, wenn man ihn selbst befördert hat. Zum anderen, weil jenes “Wir” der Kunden von Amazon, Microsoft, Louis Vuitton und Moet & Chandon sowie Zara sehr zerstreut ist und sich nie trifft, um über die Folgen all dieser Kaufentscheidungen zu beraten.
 
Tatsächlich geht der Reichtum solcher Leute aber nicht allein auf die Produktion zurück, die in ihren Firmen stattfindet. Sie vermehren die dort erzielten Gewinne auch noch durch geschicktes weiteres Investieren: Geld heckt Geld, hieß das einst bei Karl Marx. Vermögen schafft Arbeitsplätze, lautet die alternative Formulierung. Arbeitsplätze bei den Herstellern von Hochseeyachten und den Juwelieren, bei Anwaltskanzleien, Steuerberatern und Vermögensverwaltungen, in der Sicherheitsbranche.
 
Der Philosoph Christian Neuhäuser hat sich jetzt vorgenommen, die Frage zu beantworten: “Wie reich darf man sein?” Das setzt voraus, geklärt zu haben, wer reich ist. Für Neuhäuser sind das Personen, die mehr Geld haben “als man vernünftigerweise für Konsumgüter ausgeben kann”. Er meint aber nicht Sparer. Sondern Leute, die sehr viel mehr Geld haben als für ein gelingendes Leben notwendig ist. Doch wer soll über “vernünftig” sowie “gelingend” entscheiden? Neuhäuser gesteht zu, dass die Vorstellungen dazu sehr unterschiedlich sind. Gourmetreisen, ein Haus im Grünen, zweimal Urlaub oder Karten für Salzburg mögen dazugehören. Oder eine Großfamilie mit sechs Kindern, die alle studieren sollen. Für andere wäre es schon schön, wenn sie dem einen Kind, das sie haben, einen Schüleraustausch finanzieren könnten.
 
Es hilft darum wenig, wenn Neuhäuser fordert, “extravagante” Vorstellungen der Lebensführung auszuschließen, wenn es um angemessene Wohlstand geht. Glaubt er denn, sein eigenes Konsumverhalten würde von einem Bewohner der Sahelzone oder einem Hartz-IV-Empfänger nicht als extravagant bezeichnet? Dass der Wohlstand einer Person darüber hinaus noch vom eigenen Verhalten abhängt – Ehescheidungen, Gesundheitsverhalten, Ersparnisbildung -, geht in die Betrachtungen gar nicht ein.
 
Besonders ungerecht findet Neuhäuser, “dass reiche Menschen gesellschaftliche Strukturen und Institutionen nach ihren Bedürfnissen gestalten können”. Ein gutes Beispiel sind für ihn Innenstädte von Metropolen, in denen alles teuer sei, die Wohnungen wie die Restaurants. Das hieße freilich, dass es nur noch wenige bewohnte Wohnungen geben könnte und die Restaurants relativ leer sein müssten, denn schwerlich könnten sie sich allein durch Reiche füllen. Oder es würde den Wohlhabenden, wie Neuhäuser die Gruppe unterhalb der Reichen nennt, mehr für ihr Leben in Stadtzentren abgenommen.
 
Neuhäusers Denkfehler tritt hervor, wenn er behauptet, Werbung und Unterhaltungsindustrie seien nicht nur am Lebensstil, sondern auch an der Kaufkraft der Reichen orientiert. Man fragt sich weniger, wann er zuletzt Werbung für Erfrischungsgetränke, Kosmetik, Kleinwagen oder Baumärkte gesehen hat. Viel rätselhafter ist es, wenn dem Philosophen die einfache Rechnung nicht möglich ist, durch die Unternehmer wie die Besitzer von Aldi, Walmart oder Nestlé überaus reich wurden, ohne sich an die Kaufkraft oder gar an “den” Lebensstil der Reichen zu wenden. Von den Reichen als Käufern könnte die Wirtschaft kaum leben.
 
Wenn die Unterhaltungsindustrie wiederum das Leben der Oberschichten gegenüber weniger glamourösen Verhältnissen privilegieren sollte, so mag ein Trost darin liegen, dass das mit dem Kapitalismus gar nichts zu tun hat. Es war auch bei Homer und Wolfram von Eschenbach so. Im Gegenteil dringt das Leben der Leute, die keine großen Sprünge machen können, erst mit der Marktwirtschaft allmählich in die Welt der Fiktionen ein. Man kann hier an holländische Malerei der Frühneuzeit ebenso denken wie an das Kerngeschehen von Robinson Crusoe sowie an Filme, in denen Polizisten oder Hobbits eine Rolle spielen.
 
Neuhäuser möchte aber mehr als Aufklärung, er fordert politische Maßnahmen, da er schon weiß, wie eine gerechte Welt aussieht, in der die Gesellschaft “nicht mehr singulär auf Reichtum ausgerichtet ist”. Lassen wir den Aberwitz beiseite, der darin liegt, Wirtschaft und Gesellschaft gleichzusetzen, um alles unter den Tisch fallen zu lassen, was auch heute schon nicht auf Reichtum ausgerichtet ist: neben dem Rechtsstaat und der Krankenversorgung beispielsweise auch die staatliche Einrichtung von Professuren für praktische Philosophie an der TU Dortmund.
 
Neuhäusers praktische Vorschläge sind steuerliche. Ab einer irgendwie festgesetzten Schwelle müsse der Steuersatz auf Einkommen und Vermögen “sehr schnell bei 100 Prozent ankommen”. Blöd nur, dass die Unternehmen wichtig für die Wirtschaft sind, weswegen man bei ihrer Besteuerung darauf warten müsse, bis sie nicht mehr groß genug sind, um mit Abwanderung drohen zu können. Im globalen Maßstab kann sich Neuhäuser sogar vorstellen, das Sozialprodukt gleich zu verteilen. Jeder Erdbewohner hätte dann 10 000 Euro netto im Jahr. Das sei zwar, von Deutschland aus betrachtet, nicht sehr viel, und ein großes Auto könne man sich davon nicht leisten.
 
Wir ergänzen: auch kein noch so kleines. Aber die Preise würde sich ja auch verändern, wenn jeder nur noch über so wenig Kaufkraft verfügte. Soll heißen: Nicht der Reichtum würde gleich verteilt, sondern die Armut. Wer hart arbeite, dürfe auch in dieser gerechten Welt besser bezahlt werden. Aber eben nur bis zur ethisch festgelegten Obergrenze. Bleibt die Frage: “Wie stehen die Chancen, dass sich die Menschen auf solch eine große Gerechtigkeitserzählung einlassen?” Ja, wie wohl?
 
Christian Neuhäuser: Wie reich darf man sein? Über Gier, Neid und Gerechtigkeit, Ditzingen 2019 (Reclam Verlag).