Globalisierung und technischer Fortschritt gelten als Feinde der
Arbeiter. Aber liegt das eigentliche Problem bei den Gewerkschaften?
Mit der Wirtschaft stimmt irgendetwas nicht, zumindest verhält sie sich ziemlich merkwürdig, und das schon seit Jahren. Vor Corona sank die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten und in Deutschland auf immer neue Tiefstände. Doch der Mangel an Arbeitskräften hat nicht zu riesigen Lohnerhöhungen geführt, vor allem nicht in Amerika. Arbeitnehmer bekommen vom wachsenden Wohlstand einen immer kleineren Teil ab, zumindest in den Vereinigten Staaten. Und weil die Löhne nicht steigen, bleiben auch die Preise relativ niedrig.
Seit Jahren denken Ökonomen über dieses Phänomen nach und haben immer wieder unterschiedliche Ansätze gefunden – aber keinen, der alles restlos erklären kann. Jetzt aber will die Harvard-Doktorandin Anna Stansbury gemeinsam mit ihrem Professor, dem ehemaligen amerikanischen Finanzminister Larry Summers, all das auf einen Nenner bringen. Wenn sich der Blick der Ökonomen von der unmittelbaren Corona-Krise hebt, kann diese Arbeit noch für größere Diskussionen sorgen.
Globalisierung oder technischer Fortschritt?
Bisher gingen die Erklärungen oft von der Globalisierung oder vom technischen Fortschritt aus. Das geht dann zum Beispiel so: Die Globalisierung hat Milliarden billiger Arbeitskräfte aus armen Ländern in die Weltwirtschaft gebracht. So werden zwar diese Menschen reicher, aber die Löhne der Mittelschicht in den reichen Staaten werden gedrückt. Schließlich können die Arbeitgeber immer mit Abwanderung drohen. Die Gewerkschaften können wenig ausrichten, also verlieren auch sie an Bedeutung.
Ähnlich ist es mit dem technischen Fortschritt: Der macht viele mittelmäßig qualifizierte Stellen überflüssig, so heißt es oft. Gleichzeitig sind die Wohlstandsgewinne durch neue Technik noch nicht so groß, dass sie für enorme Lohnsteigerungen überall sorgen. Die Gewerkschaften könnten auch dagegen wenig ausrichten, also verlören sie an Bedeutung.
Als „Superstar-Ökonomik“ wird die These weiterentwickelt: Die technisch fortgeschrittensten Firmen zahlen zwar hohe Gehälter, aber auch wieder nicht so hohe, wie sie könnten. Außerdem brauchen sie nur relativ wenige Mitarbeiter – und erobern trotzdem immer größere Marktanteile. Entsprechend groß wird die Ungleichheit, denn die abgehängten Unternehmen können ihren vielen Mitarbeitern keine großen Gehaltserhöhungen mehr zahlen.
Vor allem die Vereinigten Staaten kümmern sich nicht genug darum, dass der Wettbewerb erhalten bleibt, wie zuletzt erst Thomas Philippon bemängelt hatte. Auch dagegen können Gewerkschaften wenig ausrichten, also verlieren sie an Bedeutung.
Die Macht der Gewerkschaften schwindet
In der Studie von Anna Stansbury und Larry Summers rückt nun eine neue Erklärung ins Zentrum: die Macht der Gewerkschaften an sich. Nach den Erfahrungen der 70er Jahre, als die sogenannte „Stagflation“ hohe Inflation und hohe Arbeitslosigkeit brachte, wurde die Macht der Gewerkschaften in vielen Ländern gebrochen, zum Beispiel in Großbritannien, wo die Bergarbeiter auch mit einem einjährigen Streik nichts gegen die Politik von Margaret Thatcher ausrichten konnten, aber auch in den Vereinigten Staaten, wo Ronald Reagan mit neuen Gesetzen die Gewerkschaften schwächte. Stansbury und Summers argumentieren nun: Es waren solche Aktionen, die Löhne und Inflation bis heute zurückhalten. Also ökonomen sagen sie: Es sinkt die “NAIRU”, also die Arbeitslosenrate, bei deren Unterschreitung die Inflation wächst (die “Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment”)
Dazu fahren sie eine Menge an Argumenten auf. Die Globalisierung allein könne nicht die entscheidende Rolle spielen, sagen sie: Dann müssten die Löhne in Branchen mit hoher Konkurrenz aus dem Ausland besonders leiden – das tun sie aber nicht. Auch die Marktmacht der „Superstars“ könne nicht der Grund sein, sagen Stansbury und Summers, denn tatsächlich hätten die Mitarbeiter großer Konzerne immer weniger Lohnvorteil vor den Mitarbeitern anderer Unternehmen.
Mehr Arbeitsplätze entstehen
Zudem erwarte die ökonomische Theorie, dass Unternehmen mit wachsender Marktmacht nicht so viele Menschen einstellen. Wenn aber die Löhne unter Druck geraten, weil die Gewerkschaften an Macht verlieren, dann passiere das, was bei sinkenden Preisen auf herkömmlichen Märkten eben passiert: Die Nachfrage steigt, und es werden doch mehr Menschen eingestellt.
Am Ende jedenfalls sinkt in den Vereinigten Staaten seit Jahren der Anteil, den die Arbeitnehmer vom Wohlstand abbekommen: die so genannte „Lohnquote“. So sehen die Autoren in ihrer These gleich noch einen Beitrag zur Erklärung der niedrigen Zinsen: Weil immer mehr Geld bei den Reichen lande, die sowieso viel sparen, suchten immer mehr Ersparnisse nach guten Anlagemöglichkeiten. Also sänken die Zinsen.
Es gibt schon Widerspruch
Die These wird nicht unwidersprochen bleiben. In einer ersten Reaktion schlägt der liberale Ökonom Tyler Cowen eine andere Erklärung vor: Nicht die sinkende Macht der Gewerkschaften sei schuld an der beschriebenen Lohnentwicklung. Vielmehr sei heute besser sichtbar, wer für die Unternehmen wichtiger sei und wer weniger wichtig. Deshalb wüchsen die Gehälter einiger Mitarbeiter, während die vieler anderer sänken. Überhaupt: Start-up-Gründer würden eigentlich für ihre Arbeit honoriert, doch sie bekämen ihr Einkommen oft in Form von Firmenanteilen, deren Wert steigt, was erst einmal als Kapitalgewinn gezählt werde. Berücksichtige man das, dann sinke die Lohnquote gar nicht. Trotzdem nennt Cowen die Studie von Stansbury und Summers „eine der besten des Jahres“.
Selbst wenn Stansbury und Summers recht haben, hätte der Machtverlust der Gewerkschaften allerdings nicht nur Nachteile. Immerhin hätte er dann nämlich eine geringere Arbeitslosigkeit ermöglicht. Das ist Grund zur Freude, machen doch bis heute wenige Schicksalsschläge die Menschen so unglücklich wie Arbeitslosigkeit. Im nächsten Schritt kann auch niedrige Arbeitslosigkeit irgendwann zu steigenden Löhnen führen. Wie das geht, zeigt Deutschland: Hier sind die Gewerkschaften zwar noch mächtiger als in Großbritannien oder in den Vereinigten Staaten.
Trotzdem hat auch ihre Lohnzurückhaltung zusammen mit den Hartz-Reformen der Nullerjahre dazu beigetragen, dass die Arbeitslosigkeit zurückgedrängt wurde und Deutschland vor der Corona-Krise fast Vollbeschäftigung erreicht hatte. In Deutschland hatten die Arbeitnehmer dann zumindest wieder so hohe Lohnsteigerungen, dass sich ihr Anteil an der Wirtschaftsleistung stabilisierte. Die Inflation allerdings blieb trotzdem niedrig. Es gibt immer noch einige Rätsel zu lösen.
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