Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Das Virus liebt die Freiheit

Demokratie ist eine gute Sache. Doch das gilt nicht unbedingt, wenn es um den Kampf gegen Seuchen geht. Von Jürgen Kaube

Der Ökonom Amartya Sen ist für seine These berühmt geworden, dass es in keiner gut funktionierenden Demokratie jemals zu einer Hungersnot gekommen ist. Diesseits der Frage, was “gut funktionierend” genau heißt, lautet das Argument: Politiker, die wiedergewählt werden wollen, haben hohe Anreize, soziale Krisen zu bekämpfen. Diktatoren fehlen solche Anreize, man möchte fast sagen, dass ihnen im Gegenteil Krisen mitunter willkommen sind. Stalins mörderische Instrumentalisierung des Hungers ist eines der bekanntesten Beispiele dafür.
 
Gilt diese politische Verbindung von Demokratie und effektivem Krisenmanagement auch für Epidemien? Auf den ersten Blick scheint es so. Der Gedanke an die Wiederwahl hat selbst den verantwortungslosesten Präsidenten auf den Kurs der Corona-Bekämpfung gebracht. Auf den zweiten Blick sind aber zumindest historische Zweifel erlaubt. Um 1900 waren die Todesfälle, die auf Pocken zurückgingen, in den Vereinigten Staaten dreißigmal höher als im Deutschen Kaiserreich. Selbst in der damals britischen Kolonie Sri Lanka zählte man ein Drittel weniger Pockentote je Tausend Einwohner als im reichsten und demokratisch regierten Land der Welt. In der Sowjetunion wurden die Pocken früher ausgerottet als in vielen westlichen Ländern. In Brasilien folgte die flächendeckende Impfung – der Impfstoff ist seit 1796 bekannt – dem Militärputsch von 1964.
 
Die Pocken sind nur ein Beispiel dafür, dass in der Bekämpfung von Epidemien politischer Zwang eine eigene Kraft entfalten kann. Epidemien beruhen auf sozialen, ansteckenden Krankheiten. Ihre Bekämpfung hängt darum nicht nur von medizinischen Fortschritten ab, sondern viel stärker noch als bei anderen Übeln vom politischen und juristischen Umgang mit Freiheit. Das hat der 2018 verstorbene amerikanische Ökonom Werner Troesken, der an der Universität von Pittsburgh lehrte, in einer Studie zur Geschichte dreier Krankheiten in den Vereinigten Staaten untersucht: Typhus, Pocken und Gelbfieber. Demnach spielte sich der Umgang mit diesen Plagen seit jeher im Spannungsfeld von politischer Mehrheitsentscheidung und Freiheit ab.
 
So stieg die Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten zwischen 1850 und 1950 von 40 auf knapp 70 Jahre für Weiße, von 23 auf gut 60 Jahre für alle anderen. Entscheidend für die Verbesserungen waren vor allem Maßnahmen gegen ansteckende Krankheiten. Die Verbesserung der Trinkwasserqualität sorgte dafür, dass Typhus als typische Todesursache zurückgedrängt wurde. Impfungen senkten die Sterblichkeit durch Diphterie und Pocken. Medikamente und organisatorische Fortschritte ließen die Tuberkulosezahlen sinken.
 
Die Bekämpfung von Typhus schildert Troesken als ein besonders gutes Beispiel für die politökonomischen Bedingungen des Kampfes gegen Epidemien. Denn es bedurfte der kommunalen Investition in Netze der Wasserversorgung und in Wasserfilter, um der Krankheit Herr zu werden. Zu solchen öffentlichen Ausgaben wiederum kam es durch den Druck von Wählern. Und weil die Krankheit ansteckend ist, plädierten auch die Bewohner “weißer” Stadtviertel für eine verbesserte Wasserversorgung “schwarzer” Quartiere. Geschätzt wird, dass rund die Hälfte der gestiegenen Lebenserwartung in den Vereinigten Staaten zwischen 1850 und 1925 auf die Versorgung mit sauberem Trinkwasser zurückgeht.
 
Im Fall der Pocken folgte die amerikanische Demokratie lange demselben Muster: In kleinen Gemeinden sorgte nach 1800 lokale Vernunft, die sich aus politischen und privaten Initiativen speiste, für Impfung. Im Zuge der Urbanisierung aber konnte “public health” nicht mehr in den Händen kommunaler Selbstorganisation verbleiben. Zusätzlich verschärfte sich in Städten aufgrund der sozialen Verdichtung naturgemäß die epidemische Situation. Fragen der öffentlichen Gesundheit wurden deshalb an den Staat und an seine entstehenden Bürokratien delegiert.
 
Das wiederum rief Bürger auf den Plan, die sich in ihren Freiheitsrechten durch politische Gesundheitsprogramme eingeschränkt sahen. Gegen eine zentrale Regelung der Krankheitsbekämpfung wehrte man sich ohnehin. Noch um 1920 sahen von 45 Bundesstaaten nur elf eine Impfpflicht gegen Pocken vor. Zwei Staaten hingegen hatten Gesetze, die Pflichtimpfungen sogar untersagten. Wo es eine gesetzliche Anordnung gab, sich gegen ansteckende Krankheiten impfen zu lassen, wurde sie auf lokaler Ebene dennoch oft nicht durchgesetzt.
 
Schaut man über die Vereinigten Staaten hinaus, so zeigt sich in so gut wie allen Ländern um 1900 ein klarer Zusammenhang zwischen Wohlstand und Gesundheit: Je reicher ein Land, gemessen an seinem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, desto höher ist die Lebenserwartung seiner Bewohner. Wird hingegen nur das Verhältnis von ansteckenden Krankheiten und Wohlstand betrachtet, so löst sich dieser Zusammenhang auf. Gerade reiche Länder wie England, die Vereinigten Staaten, die Niederlande und die Schweiz haben etwa vergleichsweise hohe Pockenraten. Die Kurve ist U-förmig, denn auch arme Länder leiden stark an Pocken. Am besten schnitten damals Länder mittleren Wohlstands und hoher politischer Zentralisierung ab: Dänemark, Kanada, Norwegen, Deutschland.
 
Troeskens Erklärung dafür ist, dass dieselben Kräfte, die zwischen 1850 und 1900 den ökonomischen Aufstieg der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und der Schweiz begünstigten, der Impfpflicht oder ihrer Beachtung entgegenstanden: hoch dezentralisierte Entscheidungsfindung im politischen System, Individualismus, unabhängige Justiz auf föderaler Ebene. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass in den Kolonien Kuba und Puerto Rico, wo es keine lokalen Widerstände zu beachten gab, die Pocken fünf Jahre nach der amerikanischen Machtübernahme 1899 ausgerottet waren, während es auf den für zentrale Maßnahmen weniger zugänglichen Philippinen zehn Jahre länger dauerte.
 
Dort also, wo eine Seuche wie Typhus durch lokale “public private partnerships” mittels Investitionen in urbane Infrastrukturen und Techniken sichtbar bekämpft werden konnte, gestaltete sich das Verhältnis von Gesundheitspolitik und politökonomischem Individualismus harmonisch. Dort jedoch, wo Freiheitsrechte und Seuchenbekämpfung im Konflikt miteinander lagen, setzten sich in den Vereinigten Staaten und andernorts lange Zeit der Individualismus und die föderalen Sonderwege durch. Man hatte, formuliert Troeskens, nicht trotz Reichtum und Freiheit hohe Pockenraten, sondern wegen des Auslebens von Freiheit, die auch den Wohlstand beförderte.
 
Werner Troesken: The Pox of Liberty. How the Constitution Left Americans Rich, Free, an d Prone to Infection. Chicago University Press 2015.