Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Jenseits von Afrika

Der Ökonom Oded Galor erklärt das Wirtschaftswachstum für die gesamte Geschichte der Menschheit. Genetische Diversität spielt eine entscheidende Rolle. Ängste vor dem demografischen Wandel oder einer Klimakatastrophe hält Galor für übertrieben.

In den Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre finden sich zahlreiche Theorien des Wirtschaftswachstums. Keine dieser Theorien greift so kühn aus wie das Gedankengebäude des seit vielen Jahren an der amerikanischen Brown University lehrenden Ökonomen Oded Galor. Alleine die Bezeichnung „Einheitliche Wachstumstheorie“ lässt einen hohen Anspruch erkennen. Sie vereint Elemente der Wirtschaftswissenschaften, der Evolutionsbiologie, der Wirtschaftsgeschichte, der Kulturwissenschaften sowie der Geografie. Präsentiert hat Galor die Grundgedanken seiner Theorie unter anderem in der 2019 gehaltenen “Copernican Lecture”.

Galor will die Ursachen des Wirtschaftswachstums in der Welt erkennen und damit auch die Gründe, die für erhebliche und hartnäckige Wachstumsunterschiede zwischen Ländern sorgen. Die Geschichte der reichen Länder teilt er in drei Epochen: Die erste, die nach dem britischen Ökonomen Thomas Malthus (1766 bis 1834) benannte „Malthusianische Epoche“ begann vor der Besiedlung des Kontinents bis etwa in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Sie war mit Blick auf das Pro-Kopf-Einkommen und die Lebenserwartung der Menschen von einer großen Stagnation gekennzeichnet.

Doch hinter diesen Zahlen verbarg sich nach Galors Ansicht eine erhebliche Dynamik, denn: Mit einer, wenn auch nur langsam, wachsenden Bevölkerung kamen Innovationsprozesse in Gang, die sich nicht in größerem wirtschaftlichen Wohlstand des Einzelnen niederschlugen, sondern in einer wachsenden Bevölkerung.

Mit durchaus unterschiedlichem Erfolg versuchen sich Menschen, an ihre Umwelt anzupassen. Anpassung ist aber, wie schon Charles Darwin wusste, entscheidend: “Weder die stärkste noch die intelligenteste Art überlebt. Es überlebt diejenige, die sich am besten an Veränderungen anpasst.”

Galors These lautet, dass Menschen, die sich in dieser Epoche am besten an die sich durch die Innovationen allmählich ändernde Welt anpassten, überdurchschnittlich viele Nachkommen hatten. Dies wiederum begünstigte noch einmal die durch die wachsende Zahl von Menschen ohnehin steigende Neigung zur Innovation. Dies führte ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in Westeuropa zu einer Situation, in der das Innovationstempo so groß war, dass trotz einer starken Zunahme der Bevölkerung das Pro-Kopf-Einkommen spürbar zu steigen begann. Diesen Prozess, der üblicherweise als Beginn der Ausbreitung des Kapitalismus wahrgenommen wird, nennt Galor die „Post-Malthusianische Epoche“.

Für ihn war dieser Sprung in die Industrialisierung, mit der sich die Welt nachhaltig veränderte, nicht zufällig, sondern unausweichlich: “Die Größe der Bevölkerung beeinflusste die Wachstumsrate technischen Fortschritts. Sie beeinflusste das Angebot von und die Nachfrage nach Ideen. Sie beeinflusste auch die Verbreitung von Ideen, den Grad der Spezialisierung des Produktionsprozesses, der ‘Learning by Doing’ anregte und das Niveau internationalen Handels, das weiteren technischen Fortschritt unterstützte.” Gleichzeitig wurden durch den technischen Fortschritt und das Wirtschaftswachstum das Wachstum der Bevölkerungen angeregt.

Dies geschah damals aber nicht überall. Viele Länder traten erst nach Westeuropa in diese Epoche ein. Und manche Länder haben sie bis heute nicht wirklich erreicht. Nach Galor dauerte diese Epoche in Westeuropa bis etwa in das Jahr 1870. Dann setzte der starke technologische Wandel Anreize für Menschen, in Bildung und Ausbildung zu investieren, die für sie attraktiver wurde als eine große Kinderzahl. In einem bekannten, mit Omar Moav verfassten Aufsatz mit dem deutschen Titel “Das Human-Kapital” hält Galor Karl Marx und dessen Nachfolgern die These entgegen, dass die Unternehmer ein Interesse an einer gut gebildeten und damit produktiven und kaufkräftigen Arbeiterschaft besaßen.

Damit setzte die „Epoche des modernen Wirtschaftswachstums“ ein, in der sich wirtschaftliche Dynamik mit einem rückläufigen Bevölkerungswachstum verband. Die Pro-Kopf-Einkommen sind seitdem im Trend gestiegen; an die Akkumulation von Sachkapital tritt zunehmend die Akkumulation von Humankapital. Wiederum gilt, dass manche Länder Westeuropa mit Verzögerung folgten, während wieder andere die „Epoche des modernen Wirtschaftswachstums“ noch nicht erreicht haben.

Warum ist das so? Galors Erklärung beruht stark auf einer Hypothese namens „Jenseits-von-Afrika“. Sie geht von der in der Evolutionsbiologie wohl nicht umstrittenen These aus, dass der Mensch seine Heimat in Ostafrika hatte, und sich dort vor 60.000 bis 90.000 Jahren Menschen in andere Regionen der Erde aufmachten – zum Beispiel nach Europa, aber auch nach Asien und nach Amerika. Der nächste Schritt ist die nach Galor belegbare Annahme, das sich die genetische Diversität dieser sich langsam ausbreitenden Menschheit mit der zunehmenden Distanz zu Ostafrika verringert hat.

Jetzt kommt die für das Wirtschaftswachstum zentrale Annahme Galors: Es existiert für den wirtschaftlichen Entwicklungsprozess eine Art optimales Maß an genetischer Diversität, das sich aus zwei gegenläufigen Tendenzen ergibt: So ist ein hohes Maß an genetischer Diversität einerseits aus ökonomischer Sicht vorteilhaft, weil sie Vielfalt fördert und eine Vielfalt von Ideen für die Entwicklung von Innovationen förderlich ist. Andererseits ist ein hohes Maß an genetischer Diversität nachteilig, wenn sie etwa auf dem Wege von Misstrauen und Konflikten oder durch unterschiedliche Vorstellungen von der Rolle des Staates die soziale Kohäsion erschwert. Neben der Größe einer Bevölkerung wird auch ihre Zusammensetzung, also die jeweilige genetische Diversität, damit zu einer entscheidenden Größe für den langfristigen Wachstumspfad eines Landes. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts war sie in Westeuropa günstig, in anderen Regionen erst – zum Teil sehr viel – später.

Was soll man davon halten? Wer einen großen Wurf wagt, darf nicht sehr an sich zweifeln, und so erstaunt es nicht, wenn Galor als Vorbilder Berühmtheiten wie Isaac Newton, Charles Darwin und Albert Einstein nennt und keine verblichenen Ökonomen. “Meine einheitliche Wachstumstheorie stellt eine allgemeine Theorie der Entwicklung von Wirtschaften über den gesamten Verlauf der Menschheitsgeschichte dar”, sagte Galor in einem Interview. “Aber tatsächlich ist sie noch ehrgeiziger. Sie reicht über die Wirtschaftsgeschichte hinaus und untersucht die Beziehungen zwischen der Wirtschaftsgeschichte und der Menschheitsgeschichte.”

Galor erklärt die Wachstumstheorien anderer Ökonomen, etwa die Theorien Robert Solows oder Paul Romers, nicht für falsch oder unbrauchbar – und zur Erklärung bestimmter Sachverhalte auch für nützlich. Aber er findet sie auch zu beschränkt und nicht geeignet, das Große Ganze zu sehen. “Diese Modelle sind bahnbrechend gewesen, unser Verständnis der Bedeutung der Akkumulation von Produktionsfaktoren und des technischen Fortschritts für die Unterstützung langfristigen Wirtschaftswachstums in der modernen Zeit voranzubringen. Gleichwohl ist die Feststellung wichtig, dass diese Theorien mit qualitativen Aspekten des Wachstumsprozesses während des größten Teils der Menschheitsgeschichte unvereinbar sind. Im Gegensatz zu diesen Modellen hatten besonders in der Malthusianischen Epoche die Kapitalakkumulation und der technische Fortschritt einen vernachlässigbaren Effekt auf die langfristige Entwicklung des Einkommens und seiner Wachstumsrate, denn sie wurden nahezu vollständig unwirksam gemacht durch ein Wachstum der Bevölkerung.”

Er selbst will viel weiter ausgreifen. Der interdisziplinäre Ansatz, besonders der Rückgriff auf die Evolutionsbiologie, und die in Galors Arbeiten verwendete anspruchsvolle Mathematik erleichtern die Kommunikation mit anderen Ökonomen aber nicht. “Die Entwicklung einer Einheitlichen Wachstumstheorie ist eine große intellektuelle Herausforderung gewesen”, schildert Galor. “Sie erforderte bedeutende methodologische Innovationen in der Konstruktion dynamischer Systeme zur Erfassung der Komplexität, die die Evolution von Wirtschaften  von der Malthusianischen Epoche zu einem Zustand nachhaltigen wirtschaftlichen Wachstums geführt hat.” Gleichwohl ist Galor kein Exot, wie führende Tätigkeiten in angesehenen Fachzeitschriften und Ökonomen-Vereinigungen seit vielen Jahren belegen.

In zweierlei Hinsicht muss man Galor in Schutz nehmen. Erstens will er mit dem Rückgriff auf das Konzept genetischer Diversität natürlich keine Rassentheorien betreiben, und er befürwortet auch keine auf genetischer Auslese beruhende Politik. Er weist nur darauf hin, dass vor Jahrzehntausenden stattgefundene Wanderungen noch heute Folgen für das Wirtschaftsleben haben können. Aus Galors Analysen sich ableitende Politikempfehlungen zielen viel eher auf eine möglichst gute Bildung der Menschen.

Zum zweiten will seine Theorie nicht alles erklären. Er versteht sie eher als eine Art Metatheorie, an die weitere Theorien angehängt werden können. So hätte nach Galors „Einheitlicher Wachstumstheorie“ die Industrielle Revolution auch in China ausbrechen können. Um zu erklären, warum dies nicht der Fall war, lassen sich dann aus anderen Wachstumstheorien bekannte Elemente wie die Institutionen eines Landes, die dort betriebene Politik und die Präferenzen der Menschen gegenüber Wandel und technologischem Fortschritt heranziehen. Wenn man diese Einflüsse berücksichtige, “können Länder mit großen Bevölkerungen nichtsdestoweniger in ihrer Entwicklung zurückbleiben, wenn ihnen die ergänzenden Kräfte für technischen Fortschritt fehlen: die Nachfrage nach Humankapital, die Bildung von Humankapital und der Rückgang der Geburtenrate”.

Hier spiele dann auch die Geographie eine Rolle. Europa sei aus geographischer Sicht empfänglicher als das riesige chinesische Festland für kulturelle Diversität gewesen, die den Weg in die Industrialisierung erleichtert habe. So sei auch erklärbar, warum China zur Zeit der Agrargesellschaften zwar manche  Innovationen früher erzeugt habe als Europa, aber dennoch viel länger in der Agrargesellschaft hängengeblieben sei.

Das war die Vergangenheit. Und wie sieht es mit der Zukunft aus? Der demographische Wandel bereitet Galor keine große Sorge. Eine rückläufiges Wachstum der Bevölkerung sorge für größere Investitionen von Humankapital je Kopf: “Die produktiven Fähigkeiten der Individuen wird von Generation zu Generation zunehmen und die Unterstützung einer im Vergleich älteren Bevölkerung gestatten.”

Und auch vor einer Klimakatastrophe hat Galor keine Angst: “Wenn uns der technische Fortschritt nicht erlaubt, die globale Erwärmung aufzuhalten, werden die nachteiligen Folgen die Reduzierung des Wirtschaftswachstums auf ein Niveau zur Folge haben, das von der Umwelt ausgehalten werden kann.” In Arbeiten aus der jüngeren Zeit (zum Beispiel hier) hat Galor auf eine Wirkungskette hingewiesen, die von mehr Bildung der Menschen über niedrigere Fertilitätsraten zu einem niedrigeren Ausstoß von Kohlendioxid führt.