Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Der Chronist der Kapitalkontroverse

Geoffrey Harcourt machte die berühmt-berüchtigte Kontroverse um Kapital und Zins zwischen dem britischen und dem amerikanischen Cambridge für die interessierte Fachöffentlichkeit verständlich. Er war in dem Zwist Partei, aber nicht so verbissen wie andere Teilnehmer. Jetzt ist er 90 Jahre alt geworden.

 
Die seltene Kunst, Wirtschaftswissenschaften spannend zu erzählen, hat in den vergangenen Jahrzehnten kaum ein Ökonom ähnlich gut beherrscht wie Geoffrey Harcourt. Den “australischen Patrioten”, so eine Selbstbeschreibung, verschlug es vor 65 Jahren an die Universität im britischen Cambridge, wo Adepten und Kollegen von John Maynard Keynes das Verständnis der herrschenden Wirtschaftstheorie von Kapital und Zins attackierten.
 
Dieser in eher unbequem lesbaren Beiträgen ausgetragene Disput wäre vermutlich kaum zur Kenntnis genommen worden und schnell in Vergessenheit geraten. Doch Geoffrey Harcourt schilderte ihn als ein Heldenepos, in dem eine kleine Schar tapferer kapitalismuskritischer Streiter aus dem britischen Cambridge einen glänzenden theoretischen Sieg über prominente kapitalismusfreundliche Ökonomen aus dem im amerikanischen Cambridge ansässigen Massachusetts Institute of Technology (MIT) errangen. (Harcourts erster zusammenfassender Zeitschriftenaufsatz führte zu einem Buch; auch später hat er Aufsätze veröffentlicht. Daneben existiert eine Literatur, zum Beispiel hier, die sich kritisch mit Harcourts Interpretation auseinandersetzt.)
 
Dieses Narrativ sprach den Zeitgeist nach 1968 an und wurde auch von Ökonomen diskutiert und gelehrt, die zu der nicht abwegigen Ansicht neigten, der Kapitalismus werde nicht wegen eventueller Unzulänglichkeiten in einem Teil der Theorie zusammenbrechen. In der Folge ächzten Generationen von Studenten in aller Welt bei der Beschäftigung mit dem Duell Cambridge gegen Cambridge.
 
Geoffrey Harcourt war in dieser sogenannten Kapitalkontroverse alles andere als neutral: Er teilte die theoretischen und politischen Positionen der Außenseiter aus dem britischen Cambridge um Joan Robinson und Piero Sraffa, aber er ersetzte ihre ideologische Verbissenheit durch eine – gelegentlich selbstironische – Gutmütigkeit, ihre Neigung zur Clanbildung durch Offenherzigkeit und ihre nicht selten schwer verständlichen Argumentationsketten und Wortklaubereien durch eine luzide Prosa.
 
So wurde der beneidenswert schreibfreudige Australier zu einem unermüdlichen Künder und Erklärer, Biographen, Netzwerker und, nach dem Tode der Altmeister, Lordsiegelbewahrer der britischen Cambridge-Schule. (Lesenswert, wenn auch nicht frei von Heldenverehrung, ist zum Beispiel sein zusammen mit Prue Kerr verfasstes Buch über Joan Robinson.) Als Autoren für eine Festschrift zum 65. Geburtstag des Australiers angesprochen wurden, schlug sich das lebhafte Interesse in einem voluminösen dreibändigen Werk nieder.
 
Aus der heutigen Sicht des ökonomischen Mainstreams gleicht das alte Cambridge zwar wie das antike Karthago einer längst untergegangenen Welt 1), aber nicht nur auf dem linken Flügel der Demokratischen Partei in den Vereinigten Staaten finden sich wieder Gedanken in der Tradition von Robinson & Co. Und Geoffrey Harcourt ist immer noch da: Am heutigen Sonntag feiert er, unverwüstlich wie eh und je, seinen 90. Geburtstag.




1) Mit den theoretischen Aspekten der Kontroverse befasst sich Bertram Schefold (Universität Frankfurt) auch heute noch sehr intensiv, zum Beispiel hier. Es zeigt sich, dass Vieles an dieser Kontroverse ideologisch überladen war und sich manche Streitpunkte relativieren, sobald man mit anspruchsvollen mathematischen Methoden und mit Empirie an das Thema herangeht.