Fazit – das Wirtschaftsblog

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Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Reformdiktat aus Washington

Stabilisieren, Liberalisieren, Privatisieren. Unter diesem Schlachtruf hatte die ökonomische Intelligenz in Washington einst Entwicklungsländern die Marktwirtschaft aufgedrückt. Das ist aus der Mode gekommen. Aber war es falsch?Reformdiktat aus Washington

 

Nach dem Neoliberalismus ist der „Washington-Konsens“ die wohl meistgehasste wirtschaftspolitische Idee der vergangenen Jahrzehnte. Sie entstand als Antwort auf die Schuldenkrise der Entwicklungsländer vor allem in Lateinamerika in den frühen 1980er-Jahren. Der Konsens beschreibt eine Reihe von politischen Reformen, die in der amerikanischen Hauptstadt auf den Fluren des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und nicht zuletzt des amerikanischen Finanz­ministeriums als notwendig angesehen wurden, um die Schuldenkrise zu beenden. Kritiker beschrieben den Washington-Konsens rasch als infames Mittel, den Entwicklungsländern unliebsame Korrekturen aufzudrücken. Für die schärfsten Gegner war es eine andere Form des westlichen Imperialismus.

Im Kern basiert der Konsens auf einer simplen Idee: Die unter ihrer hohen Schuldenlast leidenden Entwicklungsländer können der Krise nur entfliehen und Wachstum erlangen, wenn sie zu Reformen in Richtung Marktwirtschaft bereit sind. So beschrieb es der damalige amerikanische Finanzminister James Baker auf der Jahrestagung von IWF und Weltbank 1985. Baker forderte weniger Inflation, die Öffnung für den internationalen Handel, mehr Offenheit für ausländische Investitionen und Privatisierung. Das passte in eine Zeit, in der im Vereinigten Königreich unter Margaret Thatcher, in den Vereinigten Staaten unter Ronald Reagan und teils auch in Deutschland unter Helmut Kohl die Vorzüge privater Märkte wiederentdeckt wurden. Nach dem Fall der Mauer und des Ostblocks ergriff dieses Denken auch Osteuropa sowie afrikanische Staaten, die zuvor von der Sowjetunion ausgehalten worden waren. Spöttisch und karikierend wurde der Konsens als Mantra des „Stabilisierens, Liberalisierens und Privatisierens“ beschrieben.

Vor gut drei Jahrzehnten taufte der in diesem Frühjahr gestorbene Ökonom John Williamson das Ideenbündel „Washington-Konsens“. Mittlerweile ist das Konzept weitgehend aus der Mode gekommen. Selbst der IWF wird immer beweglicher und hat seine Prinzipien, wonach etwa Beschränkungen des internationalen Kapitalverkehrs schlecht sind, über Bord geworfen. Eine Reihe von Aufsätzen im aktuellen „Journal of Economic Perspectives“ legt offen, warum unter Ökonomen nur noch wenige etwas mit den Ideen von damals zu tun haben wollen.

Amerikanische Arroganz

Da ist zunächst der unglückliche Name. Williamson nannte seinen Aufsatz von 1990 „Was Washington unter politischen Reformen versteht“. Das musste übel aufstoßen, meint der Ökonom Michael Spence und formuliert spaßhaft einen alternativen Titel, der weniger scharfe Kritik hervorgerufen hätte: „Einige Lektionen aus der Erfahrung von übermäßig verschuldeten Entwicklungsländern, mit einem speziellen Fokus auf zerstörerische Anfälle von Instabilität, hervorgerufen durch Versagen der gesamtwirtschaftlichen Lenkung, und Politiken, die helfen können, diese Anfälle zu vermeiden“.

Da ist der Begriff Washington-Konsens doch griffiger. Er zeigt ungewollt, wie das Geschäft mit den Krediten von IWF und Weltbank läuft: Wir leihen euch Geld, im Gegenzug aber verlangen wir wirtschaftliche Reformen, die letztlich wir bestimmen. Aus liberaler Sicht ist das zu kritisieren. Die Formel legt eine arrogante Haltung der in Washington versammelten Ökonomen offen, die ihr Wissen für überlegen halten. Das wirkt umso merkwürdiger, weil die Fachleute aus Washington im Gegensatz zu den meisten Regierungen der Entwicklungsländer nicht demokratisch gewählt wurden. Imperialismus aber ist das nicht. Kein Entwicklungsland ist gezwungen, Geld vom IWF oder von der Weltbank anzunehmen.

Eine zweite Kritik am Washington-Konsens ist unter Entwicklungsökonomen weiter verbreitet. Sie beklagen, dass die Formel „Stabilisieren, Liberalisieren und Privatisieren“ nicht genug sei. Weder beschreibe sie alle Beispiele erfolgreicher wirtschaftlicher Entwicklung, siehe China oder Indien. Noch berücksichtige sie, dass wirtschaftliche Reformen dauerhaft nur Erfolg hätten, wenn die Bevölkerung mitmache. Damit wird meistens begründet, dass Entwicklungs- und Wachstumspolitik auch sozialen Ausgleich oder Umverteilung benötigten. Dass es institutioneller Reformen bedürfe, etwa einer unabhängigen Justiz, um private Eigentumsrechte wirklich zu sichern. Dass Reformschritte gut aufeinander abgestimmt und geplant sein müssten, um das Land, das Finanzsystem und die Menschen nicht zu überfordern. Dass pauschale Formeln nicht hülfen, weil die Ausgangslage in jedem Entwicklungsland anders sei. Dem ist im Einzelfall schwer zu widersprechen. Es hieße aber, das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn man den Washington-Konsens deshalb ad acta legte.

Bakers Thesen stimmen

Baker sei 1985 mit seinem Plan zur Lösung der Schuldenkrise gescheitert, weil er einen Schuldennachlass der Banken ausschloss, schreiben die Ökonomen Arusha Chari, Peter Blair Henry und Hector Reyes. Die Baker-Hypothese aber, dass die strukturellen Reformen Richtung Marktwirtschaft das Wachstum verbesserten, halte einer empirischen Überprüfung gut stand. Im Einzelnen zeigen sie, dass Entwicklungsländer nach einer Stabilisierung der Inflation und nach einer Öffnung des Außenhandels schneller wuchsen als in den Jahren zuvor. Das verwundert nicht. Niedrige und stabile Inflationsraten verschafften Planungssicherheit, die unternehmerisches Handeln erblühen lässt. Die Öffnung zum Weltmarkt gab Unternehmern Absatzmöglichkeiten, die das vergleichsweise noch arme Entwicklungsland üblicherweise nicht bieten kann. Weiter senkte die Zulassung ausländischer Anteilseigner, ein Indikator für die Öffnung des Landes für ausländisches Kapital, die Eigenkapitalkosten und stärkte die Kontrolle der Unternehmen. Direkte gesamtwirtschaftliche Wachstumseffekte aus der Privatisierung sind nach der Analyse noch am schwersten nachzuweisen, weil der Übergang von staatlichem zu privatem Eigentum nicht selten mit Monopolisierung und Korruption einherging. Das deutet an, dass die Art der Privatisierung ebenso wichtig ist wie die Privatisierung an sich.

Baker habe 1985 vergessen zu sagen, dass seine Bemerkungen einen Kompass, nicht aber eine Landkarte böten, schreiben Chari, Henry und Reyes. Damit ist das Grundproblem der zweiten Art der Kritik am Washington-Konsens gut beschrieben. Eine Landkarte mit eingezeichnetem Pfad aber konnte Baker nicht bieten. Es klingt paradox, doch der Washington-Konsens als Kompass in Richtung Marktwirtschaft setzt weit mehr auf Wachstum im sich entwickelnden Wettbewerb als auf das geballte Planungswissen von Entwicklungsökonomen in Washington.

Literatur
„Symposium: Washington Consensus revisited“, Journal of Economic Perspectives, Bd. 35, Nr. 3, Sommer 2021.

 

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