Wendezeit in der Geldpolitik: Die Pandemie und der Krieg fordern die Zentralbanken. Auf dem EZB-Forum in Sintra räumen Christine Lagarde und Jerome Powell Fehleinschätzungen ein.
Kaum ein Zweig der Wirtschaftspolitik präsentiert sich ähnlich verwissenschaftlicht wie die Geldpolitik. Die Zentralbanken beschäftigen zahlreiche Ökonomen, sie veranstalten oder fördern wissenschaftlichen Austausch, und ihre Strategien sind nicht selten wissenschaftlich unterlegt. Mit dem über mehr als ein Jahrhundert angesammelten Schrifttum zur Theorie und Praxis der Geldpolitik ließe sich eine stattliche Bibliothek füllen. Mehr noch: Zu den einflussreichsten Mitarbeitern einer Zentralbank gehört gewöhnlich ihr Chefvolkswirt. Und so haben es angesehene Ökonomen sogar an die Spitze von Zentralbanken gebracht. Erwähnt seien an dieser Stelle Axel Weber als Präsident der Deutschen Bundesbank (2004 bis 2011), Ben Bernanke als Vorsitzender der Federal Reserve (2006 bis 2014) sowie Raghuram Rajan als Gouverneur der Reserve Bank of India (2013 bis 2016). Die Liste ließe sich unschwer verlängern.
Und nun das: Auf dem diesjährigen EZB-Forum im portugiesischen Sintra bekannte Jerome Powell, als Vorsitzender der Federal Reserve der mächtigste Geldpolitiker der Welt: “Wir verstehen jetzt, warum wir wenig von Inflation verstehen.” EZB-Präsidentin Christine Lagarde sagte: “Geldpolitik ist keine reine Wissenschaft. Sie ist auch Kunst.” Der Geldpolitiker als Künstler? So mancher unter den auf Geldpolitik spezialisierten Ökonomen mag sich ächzend fragen: War alles vergeblich?
Lagarde räumte offen ein, die Inflationsgefahren unserer Zeit unterschätzt zu haben, und rief zu einer Ursachenanalyse auf: “Das ist eine nützliche Übung.” Gleichzeitig warfen Lagarde und ihre Kollegen in Sintra den von ihnen erst aufgehängten Schleier der Unwissenheit gleich wieder weg, indem sie ein Ende der langen Periode niedriger Inflationsraten ankündigten, die die Welt vor der Pandemie gekennzeichnet hatte. Eine konfliktreichere Welt, Beeinträchtigungen der Globalisierung, die ökologische Transformation der Volkswirtschaften und die Demographie dürften auf absehbare Zeit für einen höheren Inflationsdruck sorgen. Und die Schar der Mächtigen, die erst die Gefahren der Inflation lange unterschätzt hatten, bekräftigte in Sintra eine Erkenntnis, die spätestens seit der letzten großen Inflationsperiode vor einem halben Jahrhundert bekannt, aber auch in Vergessenheit geraten war: Inflation muss konsequent bekämpft werden, um ihre Kosten für die Allgemeinheit zu begrenzen.
In Sintra erklärten Geldpolitiker ihre Unsicherheit mit einer Vernachlässigung der Analysen des gesamtwirtschaftlichen Angebots durch die Fachwelt zugunsten einer zu starken Ausrichtung der ökonomischen Analyse auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, weil die Unterschätzung von Analysen des gesamtwirtschaftlichen Angebots nicht nur in der Geldpolitik beobachtet werden kann. Hierfür spielen zum Teil ideologische Gründe eine Rolle, aber auch die schlichte Unfähigkeit, unvorhersehbare schwere wirtschaftliche Schocks etwa durch Pandemien oder Kriege im Vorhinein zuverlässig zu modellieren.
Ideengeschichtlich und mit Mut zu einer starken Vereinfachung lässt sich konstatieren: Bis zur Weltwirtschaftskrise spielte die gesamtwirtschaftliche Nachfrage für die meisten Ökonomen keine bedeutende Rolle; allein das Konzept war kaum bekannt. Das nach dem französischen Ökonomen Jean Baptiste Say benannte Theorem, nach dem sich jedes Angebot seine eigene Nachfrage schaffe, galt zumindest als grobe Richtschnur für das Denken. Seit den Arbeiten von John Maynard Keynes ist die gesamtwirtschaftliche Nachfrage in den Blickpunkt gerückt. Das gilt auch für die Betrachtung der Inflation.
Zwar findet sich in älteren Lehrbüchern das Phänomen der Kostendruck-Inflation (“cost push”), in der stark steigende Produktionspreise, ausgelöst etwa durch Verteuerungen von Rohstoffen, als wichtige Inflationsursache angenommen werden. 1) Während der Mainstream der Ökonomen die Möglichkeit solcher Kostensteigerungen am Anfang einer Inflationsperiode nicht bestreitet, definiert er in dauerhaften Inflationsprozessen eine das Angebot überschreitende gesamtwirtschaftliche Nachfrage als dominierende Ursache. Dies gilt ausdrücklich auch für den Monetarismus Milton Friedmans, in dem die Zentralbank die Geldmenge steuern soll, weil die Geldmenge in diesem Modell die gesamtwirtschaftliche Nachfrage bestimmt. Friedman hat sich mit Händen und Füßen gegen die Vorstellung gewehrt, Inflation sei durch Verteuerungen des Angebots erklärbar: 2) Jeder Versuch von Unternehmen, Preise zu erhöhen, kann nur funktionieren, wenn eine ausreichende monetäre Nachfrage existiert.
In den handelsüblichen ökonomischen Modellen verändern sich die Angebotsbedingungen in einer Wirtschaft nur träge. Sie sind bestimmt durch das Angebot an Arbeit (für das die Demographie wichtig ist), durch die von der Wirtschaft genutzten Technologien, durch den Bestand an Sachkapital und durch die Qualität der Wirtschaftspolitik, die idealerweise die Entfaltung wirtschaftlicher Tätigkeit eher fördert als behindert. Freie Märkte in einer globalisierten Wirtschaft tragen in diesem Modell zu einer hohen Elastizität des gesamtwirtschaftlichen Angebots bei, weil etwaige Störungen in einer Weltregion eventuell durch eine höhere Produktion in einer anderen Weltregion ausgeglichen werden können, ohne dass es zu bedeutenden Güterverknappungen oder spürbaren Kostensteigerungen kommt.
Wer über solche Modelle heute verächtlich lacht, sollte nicht vergessen: Sie haben ziemlich lange gut funktioniert. Die hohe Elastizität des globalen Güterangebots hat der Weltwirtschaft vor der Pandemie sehr gut getan. Heute lassen sich hingegen die verheerenden Folgen einer fehlenden Elastizität des Angebots in Gestalt gestörter Lieferketten und astronomischer Preissteigerungen für viele Rohstoffe, Nahrungsmittel und industrielle Vorprodukte konstatieren.
Unversehens finden wir uns in einer Welt wieder, in der sich die Angebotsbedingungen mit einer unerwartet hohen Geschwindigkeit verändern. Wirtschaftliche Schocks seien halt in aller Regel nicht vorhersehbar, heißt es schulterzuckend in Zentralbanken. Die Pandemie, in der durch Lockdowns bedingt kurzfristig vor allem viele Dienstleistungen nicht mehr angeboten werden konnten, während eine steigende Nachfrage nach Industriegütern angesichts gestörter Lieferketten nicht rasch befriedigt wird, war so nicht vorhersehbar. Und während die Welt mühsam die Lasten der Pandemie abzuwerfen versucht, führt ein imperialistischer Krieg Russlands zu Störungen in der Versorgung mit Energie und Nahrungsmitteln. Hinzu treten durch die Klimapolitik induzierte, mit erheblichen wirtschaftlichen Chancen wie Risiken verbundene Veränderungen des gesamtwirtschaftlichen Angebots, das zudem durch den Eintritt der Babyboomer in den Ruhestand beeinflusst wird. So viel Unsicherheit war seit vielen Jahrzehnten nicht – nicht nur, aber auch in der Geldpolitik.3)
- Erinnert sei an einen seinerzeit sehr bekannten Überblicksartikel zu den Inflationstheorien von Bronfenbrenner/Holtzman (1963).
- In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde in den Vereinigten Staaten die Kostendruck-Erklärung der Inflation von John Kenneth Galbraith in seinem Buch “A Theory of Price Control” (1952) -popularisiert. Galbraith vertrat, wie nicht wenige heutige Vertreter der Kostendruck-Erklärung auf der politischen Linken, die These einer geringen Wirksamkeit nachfrageorientierter Inflationsbekämpfung durch Geld- oder Finanzpolitik. Friedman bestritt nicht die Existenz von Unternehmen mit Marktmacht und, in einzelnen Branchen, Gewerkschaften mit Macht, aber für ihn blieb Inflation “immer und überall ein monetäres Phänomen” – und damit ein Problem der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, das von der Geldpolitik zu lösen ist.
- Wir haben im Zusammenhang mit Situationen sehr hoher Unsicherheit mehrfach (etwa hier und hier) auf Arbeiten des britischen Ökonomen George L.S. Shackle verwiesen.