Warum sinken die CO2-Emissionen der Autos nicht? Weil die Politik falsch plant.
Von Jürgen Kaube
Mobilität ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis unserer Gesellschaft. Freiheit wird ganz wesentlich als die Möglichkeit zur Ortsveränderung verstanden. Ich bin hier, wäre aber gern woanders. Oder: Etwas ist dort, wird aber hier verlangt. Die Trennung von Wohn- und Arbeitsort fällt ebenso unter diese Möglichkeit von Mobilität wie die Dienstreise, der Schulweg, der Tourismus und das gesamte System der Warentransporte.
Der Gebrauch der Freiheit hat eine Rückseite. In den Preisen für die Nutzung von Verkehrsträgern sind die Kosten, die sie der Allgemeinheit auferlegen, nicht enthalten. Kosten beispielsweise in Form von Umweltschäden. Wir fahren zu billig. Anders formuliert: Der Straßenverkehr trägt übermäßig zum Klimawandel bei. Während die Emissionen in anderen Sektoren immerhin rückläufig sind, steigen die seinen. An der deutschen Gesamtemission von CO2 hat der Straßenverkehr einen Anteil von 20 Prozent, 2010 waren es noch 16,4 Prozent. In diese Zahlen gehen dabei nur die des Kraftstoffverbrauchs ein. Strom, der für die Beleuchtung von Straßen verwendet wird, wird dem Verkehr ebenso wenig zugerechnet wie die Energie, die zur Produktion von Automobilen verwendet wird. Nach Verkehrsträgern berechnet, gehen mehr als 60 Prozent der CO2-Emissionen auf Pkws zurück, 26 Prozent auf Schwerlaster und gut 13 Prozent sowohl auf die zivile Luftfahrt wie auf Schiffe.
Weshalb gelang bisher keine Minderung der Emissionen aus dem Straßenverkehr? Die Antwort, die der Berliner Verkehrsforscher Jonathan Siebert gibt, lautet: auch aufgrund einer falschen Verkehrswegeplanung. Der Bundesverkehrswegeplan (BVWP), der alle fünfzehn Jahre erstellt wird und derzeit bis 2030 gilt, sei bislang an einem als quasi natürlich unterstellten Mobilitätswachstum orientiert. An dieses Wachstum passt sich die Planung von Infrastrukturen nur an, ohne zu sehen, dass sie damit zur sich selbst erfüllenden Vorhersage wird: Man plant für mehr Verkehr und bekommt ihn aufgrund dieser Planungen auch. Seit 1950 haben sich die pro Person gefahrenen Kilometer nahezu verzehnfacht. Die Verkehrsplanung nimmt das als externe Vorgabe, anstatt zu sehen, dass sie einen Einfluss darauf hat. Außerdem gehen in ihre Prognosen Annahmen ein, die sich bezweifeln lassen. Etwa die langfristig sinkender Erdölpreise oder eines schnelleren Anstiegs der Haushaltseinkommen als der Verkehrskosten. So kommen Zuwachsraten des Verkehrs zustande, die politisch zu Erweiterungen des Verkehrsnetzes zwingen sollen.
Dabei sind die Reisezeiten der Personen im Durchschnitt erstaunlich stabil. Pro Tag werden im Mittel drei Wege zurückgelegt und dafür 60 bis 70 Minuten Wegezeit eingesetzt. Verändert haben sich hingegen die Entfernungen, die zurückgelegt werden. Das heißt auch: Die Zeiteinsparung durch schnellere Automobile und mehr Verkehrswege wird vollständig wieder in den Verkehr investiert und dort durch längere Distanzen und Staus “aufgefressen”. Es gilt hier das Sprichwort: “Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten”, in jede zusätzlich gebaute Spur strömt zusätzliche Mobilität. Siebert schätzt diese Zunahme des Verkehrs durch Straßenneu- und -ausbau auf jährlich ein Prozent.
Dass längere Distanzen zurückgelegt werden können, ermöglicht natürlich eine ganze Reihe von Optionen, etwa was die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnort angeht. Gleichzeitig aber verdreckt durch diesen “induzierten Verkehr” die Umwelt, und es bleibt erstaunlich, dass die gängige Verkehrsplanung das kaum registriert. Sieberts Vorwurf ist noch schärfer: Die Macher des BVWP kennen das Problem, ignorieren es aber ganz bewusst. Dem Verkehrsministerium hält er vor, mit Abwehrformeln des Typs “Verkehrspolitik allein kann die Klimaziele nicht verwirklichen” davon abzulenken, dass sie ohne eine angemessene Verkehrspolitik jedenfalls nicht erreicht werden können.
Das Argument, das eine wachstumsorientierte Verkehrspolitik begründen soll, zielt auf einen Zusammenhang von mehr Mobilität und Wirtschaftswachstum ab. Es wird die “optimale Erreichbarkeit” aller Orte mittels Personen- und Lastkraftwagen beabsichtigt. Die in Paris vereinbarten Klimaziele kommen in den entsprechenden Texten nicht vor. Als Trägergruppen zusätzlichen Verkehrs werden vor allem ältere Personen, Frauen und Migranten ausgemacht, die bislang noch “untermotorisiert” sind. Neue Mobilitätsformen wie Carsharing und abrufbarer öffentlicher Nahverkehr, die den Bedarf an Personenkraftwagen dämpfen könnten, werden nicht berücksichtigt.
Außerdem bemängelt Siebert die Kostenschätzungen für den Straßenneubau. Kostensteigerungen von 20 bis 50 Prozent seien keine Ausnahme, was die Planung eigentlich berücksichtigen sollte, wenn sie eine Abwägung von Kosten und Nutzen vornimmt. Der Bundesrechnungshof hat in diesem Sinne die Verkehrsplanung des Bundes und der Länder mehrfach kritisiert, ohne damit eine Wirkung zu erzielen. Dem Verkehrsministerium, das lange eine Burg fest in der Hand mittelbegabter CSU-Politiker war, wirft es vor, wiederholt seine Ziele zu verfehlen, Kosten zu niedrig einzuschätzen und die von den Ländern eingereichten Kostenschätzungen nicht zu überprüfen. Im März dieses Jahres kritisierte der Bundesrechnungshof, dass bei fast allen Klimaschutzmaßnahmen des Bundes Vorgaben dafür fehlen, wie viele Treibhausemissionen damit eingespart werden sollen. Von den Grünen war uns etwas anderes versprochen worden: die Berücksichtigung des Klimawandels in allen Ressorts.
Auf der Nutzenseite beobachtet Siebert eine komplementäre Strategie der Verkehrsfreunde. Eine Stunde im Stau wird fünfmal höher bewertet als eine Stunde, die durch einen Unfall verloren geht. Fünf Minuten Zeiteinsparung werde so schnell bei 15 000 Pkws am Tag und einer Lebensdauer der Straße von achtzig Jahren zu einem ungeheuren Nutzen, auch wenn für die Individuen fünf Minuten fast unter der Wahrnehmungsschwelle liegen. Wer sich noch daran erinnert, wie die Deutsche Bahn ihr Projekt “Stuttgart 21” mittels solcher Berechnungen wirtschaftlich schöngerechnet hat, könnte auf den Gedanken kommen, die Einführung eines Studienfachs “Politische Kosten-Nutzen-Rechnung” zu fordern.
Was tun? Siebert verweist auf das Urteil eines englischen Gerichts, das 2020 die Festlegungen des Pariser Abkommens für die Verkehrsplanung als einschlägig erklärte. Werde die Verkehrsplanung ohne Auseinandersetzung mit solchen Umweltzielen vorgenommen, sei sie rechtswidrig. Ein deutsches Rechtsgutachten von 2021 hält den “Bedarfsplan Straße” für unionsrechtswidrig. Es könnte sich also auch in Deutschland lohnen, anstatt Bilder mit Suppe zu beschmutzen und sich auf Straßenkreuzungen zu kleben, die Gerichte anzurufen.
Literatur:
Jonathan Siebert: Wie kann eine konsequent klimagerechte Verkehrsplanung aussehen? WZB-Discussion-Paper, September 2022