Deus ex Machina

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Mehr Egomarketing wagen

Netz-Nerds und digitale Distinktionsgewinnler haben ein neues Lieblingsspielzeug: Google plus, das etwas andere soziale Netzwerk. Aber das managen all der digitalen Repräsentanzen artet allmählich in Stress aus.

Um es gleich vorweg zu sagen: Mein Google-Konto ist nicht im Plus. Ich habe mich nicht um eine Einladung bemüht, die neue soziale Plattform Google plus vorab testen zu können. Aber an einschlägigen Erlebnisberichten über das Look and Feel und die Funktionalitäten dieses neuen Dienstes herrscht ja auch kein Mangel im Netz. Der Hauptvorteil gegenüber Facebook dürfte wohl darin liegen, dass man seine Kontakte sehr leicht in verschiedene Gruppen und Zirkel sortieren kann. Und diese Sortierungen erfordern anders als bei Facebook keinerlei Gegenseitigkeit: Ich kann jemanden bei „Kollegen” einsortieren, aber der Betreffende ist nicht gezwungen, mich ebenfalls in seine Zirkel einzusortieren. Er könnte mich im Prinzip aber auch bei „Konkurrent” oder „Nervensäge” hinzufügen. Diese Flexibilität ist jedenfalls schon mal um Klassen praktischer als dieses zwangssymmetrische „Freunde”-Korsett bei Facebook, in das die Kontakte aus der Berufswelt, die man aus Facebook ja auch nicht unbedingt völlig heraushält, nicht so recht hineinpassen.

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Viel zu sagen wäre auch noch über das Chatten per Videokonferenz oder die zu Streams aufgebohrten Google Alerts und all die anderen tollen Features von Google plus. Aber wir sind hier ja nicht bei der „c’t” oder der „Computer Bild”, uns interessiert die Dinglichkeit dahinter mindestens so sehr wie das digitale Ding an sich. Und was im jetzigen Stadium extrem auffällt, ist folgendes: Auf Google plus treiben sich derzeit in der Hauptsache die ganzen üblichen Verdächtigen herum, die digitalen Deutungshoheitler und Erklärbären des Elektronik-Zeitalters. Johnny Haeusler von Spreeblick.com bringt es auf den Punkt: „Da sind wir nun alle versammelt, die selbst oder fremd ernannten Web-Auskenner, die Media-Analysten, die Social-PR-Profis, die Checker 2.0.” Und da Google Plus ähnliche Schwanzvergleiche Kontaktzahl-Rankings ermöglicht wie Twitter, hat sich der notorische Numbercruncher Jens Schröder auch gleich mal die Mühe gemacht, die ersten Google-plus-Charts zu erstellen. Und wen finden wir da alles in den Top 10 mit den meisten Kontakten? Sascha Lobo, Mario Sixtus, Johnny Haeusler, Robert Basic, Thomas Knüwer. Tja.

Sicher ist diese kleine Auswahl nur bedingt repräsentativ für das Gros derer, die die Gelegenheit nutzen, mit dem neuen Google-Netzwerk vor dem Massenstart etwas herumzuspielen. Aber das bisherige – überwiegend positive – Echo der netzaffineren Kreise auf das neue Spielzeug lässt durchaus einige Schlüsse zu. Dass die Vorturner der Daseins-Digitalität auf dieses neue Spielzeug nur gewartet haben, liegt auf der Hand. Aus der Bloggerei ist die Luft schon seit ein paar Jahren raus, die Faszination des Kurznachrichtendienstes Twitter hat auch schwer nachgelassen. Um abseitigere Nischenanwendungen wie die ortsbasierten Dienste Foursquare oder Gowalla, die vor anderthalb Jahren als der neue heiße Sch**ß gehyped wurden, ist es auch verdächtig ruhig geworden. Damit sind keine digitalen Distinktionsgewinne als early adopter mehr herauszuholen. Und Facebook, je nun. Sagen wir es rundheraus: Die große Liebe ist dieses social network in Checker-Zirkeln nie gewesen. Das proprietäre und abgeschottete System, die bevormundenden Standard-Voreinstellungen, das alles ist dem gebürtigen oder früh eingewanderten Digitaliener doch ein ziemlicher Graus. Aber mit Google plus gibt es endlich wieder ein neues großes Spielzeug, mit dem man fortgeschrittenes Checkertum signalisieren kann – zumindest solange, bis auch der trägere Rest der Netzbevölkerung im Regelbetrieb seinen Claim im Plusland abstecken darf.

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Nun hat der langjährige Google-Chef Eric Schmidt kürzlich in einem Interview ungewohnt selbstkritisch eingeräumt, das größte Versäumnis seiner Amtszeit habe darin bestanden, Facebook nichts Brauchbares entgegengesetzt zu haben. Trotzdem wäre es zu kurz gedacht, in Google plus nur den potenziellen Facebook-Killer zu sehen. Akut bedroht Googles sozialer Mehrwertdienst wohl eher Twitter mit seiner Beschränkung auf 140 Zeichen und all den konzeptionellen Limitierungen dieser Plattform. Die Millionen Mitglieder, die sich im umzäunten Garten von Facebook wohl fühlen, werden in nächster Zeit sicher nicht in Scharen Tante Gu ins Netz gehen. SPON-Kolumnist Sascha Lobo sieht auf dem Planeten social media Platz genug für zwei Plattformen: „Google plus ist darauf angelegt, weniger das soziale als das komplette mediale Erlebnis im Netz zu bieten – selbst zusammengestellt. Denn auf Facebook ist man, Google+ macht man sich.” Wenn Lobos Analyse stimmt, dass Google plus weniger für die virtuelle gegenseitige Fellpflege im Rudel gedacht ist als für die effizientere Kanalisierung persönlicher Informationsströme, können Facebook und Google plus durchaus noch eine ganz Weile nebeneinanderher existieren. Nebenbei bemerkt sind wegen Facebook ja auch nicht alle anderen Adressen wie Myspace, Werkenntwen oder die VZ-Netzwerke auf einen Schlag völlig obsolet geworden.

Das ist einerseits natürlich schön. Aber auf der anderen Seite stürzt Google plus all jene, die schon qua Beruf (oder Berufung zum Web-2.0-Evangelisten) auf allen Plattformen tanzen müssen, in ernste Schwierigkeiten. Jeder Tausendfüßler, der über die richtige Reihenfolge grübelt, in der er seine Füße setzen soll, kennt das Problem. Wie koordiniere ich als Social-Web-Tausendsassa meine Kontaktpflege und Kommunikation am besten über Xing, Linkedin, Facebook, Blog, Twitter und das ganze andere zwonullige Gedöns? Gut, die Tweets können auch bei Facebook reinlaufen, dort möchte aber auch nicht jeder alle Twittermeldungen seiner Freunde lesen. Erich Kubitz jedenfalls fasst nach ein paar Tagen mit Google plus den festen Entschluss, „daran zu arbeiten, meinen Social-Media-Aufwand deutlich zu reduzieren”. Natürlich wäre es bequem, mit technischer Unterstützung einen Gedanken irgendwo aufschreiben zu können und automatisch durch möglichst viele Netzwerke zu ventilieren. Das aber, ahnt Kubitz, würde diesem Circle-Gedanken von Google plus auch nicht gerecht, der ihm so gut gefalle. „Warum sollte ich Kreise bilden, wenn ich dann doch immer alles an alle schicke?”

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Das ist die sprichwörtliche Tausend-Dollar-Frage, über die auch andere Dauerkommunikatoren und professionelle Nutzer hirnen: Was tun, und vor allem was lassen? Wo kommt es mir auf Reichweite an, wo mehr auf Treffgenauigkeit und Kontaktqualität? Xing bleibt als Kanal für Businessrelevantes und Karrierekram bei vielen sicher gesetzt, Facebook wird vielleicht mehr zur reinen Privatveranstaltung zurückgefahren, Twitter als Tröte auch weiterhin geblasen, solange nicht alle Follower auch bei Google plus gelistet sind. Als sicher kann gelten, dass Googles Bilderdienst Picasa und die Blogplattform blogger.com mehr oder weniger in das Plus-Biotop assimiliert werden. Und damit steht die Integration heutiger und künftiger Google-Funktionalitäten immer noch am Anfang. Freuen wir uns schon auf Google-Doppelplus, wo wir dann auch Telebanking und Social Shopping abwickeln können, ein winziger Android-Chip in der Hirnanhangdrüse wird uns dann hardwaretechnisch ziemlich plattformunabhängig machen bei der Teilhabe am echten Social Web. Echtzeitbasierte Gesundheitsdienste sind mit unseren Vitaldaten relativ einfach zu realisieren. Und wer weiß, wenn Tante Gu nur genug Daten und Wissen über uns zusammengetragen hat, sollten die Algorithmen einer ultimativen Suchmaschine doch auch in der Lage sein, den passenden Partner oder die richtige Partnerin für uns zu suchen. Oder geht da noch mehr? Patrick Breitenbach sagt in einem Kommentar bei Robert Basic, dass Google plus nichts geringeres möchte als mit unserer realen Identität zu verschmelzen und die Software unseres Ichs zu werden – oder „metaphysisch gesehen Gott (als die Summe aller Informationen) virtuell abzubilden”. Das hieße, das Plus wirklich auszureizen bis zum Nonplusultra.