Sparer und Vermögensverwalter zeigen sich angesichts negativer Realzinsen ernüchtert. Zwei Erklärungen wetteifern um das Vorrecht, die niedrigen Renditen am Anleihemarkt zu erklären: Es könnte sich um eine Ersparnisschwemme handeln oder aber um eine Bankenschwemme. In der Realität ergänzen sich sehr wahrscheinlich beide Erklärungen.
Von Gerald Braunberger
Spätestens seit dem vergangenen Jahr steht für viele Ökonomen, Analysten und Vermögensverwalter fest: Die sehr niedrigen Anleiherenditen in den meisten Industrienationen – eine zehnjährige deutsche Bundesanleihe rentierte am 10. Dezember 2012 mit rund 1,30 Prozent – können nur das Ergebnis einer spekulativen Übertreibung der Kurse sein, hervorgerufen in erster Linie durch eine sehr expansive Geldpolitik und eine sich daran anschließende Aufblähung der Bank- und Kapitalmarktgeschäfte. Ökonomen sprechen von einer „Bankenschwemme” (banking glut).
Für die Vertreter dieser Ansicht steht fest, dass diese Spekulationsblase, die unter anderem zu negativen Realzinsen geführt hat, wie alle Spekulationsblasen früher oder später platzen muss. Wer diese Warnungen vor einem Jahr ernst nahm, hat seitdem allerdings auf viel Rendite verzichtet: Mit vielen Staats-, aber erst recht Unternehmensanleihen konnte man im Jahr 2012 deutliche Kursgewinne erzielen.
Dem Bild einer „Bankenschwemme” steht das Bild einer „Ersparnisschwemme” (savings glut) entgegen: Nach ihm erklären sich die sehr niedrigen Renditen in Industrienationen nicht zuletzt durch die Bildung von Ersparnissen in den aufstrebenden Schwellenländern, die zur Kapitalanlage in die Industrienationen abwandern. In diesem Falle sind die niedrigen Renditen in Industrienationen realwirtschaftlich erklärbar und keineswegs das Ergebnis spekulativer Übertreibungen. Eine Untersuchung der Federal Reserve Bank of St. Louis hat einen Blick auf diese beiden Erklärungen geworfen, die sich im übrigen keineswegs gegenseitig ausschließen, sondern sich auch ergänzen können.
Der Vorsitzende der amerikanischen Notenbank Fed, Ben Bernanke, gehört seit vielen Jahren zu den Vertretern der These der „Ersparnisschwemme”. Demnach fließen vor allem aus den asiatischen Schwellenländern Ersparnisse in die Vereinigten Staaten, weil Amerika als eine Art „sicherer Hafen” für Kapitalanleger gilt. Diese Ersparnisse sind überwiegend in Staatsanleihen und Anleihen staatlich garantierter Institutionen wie die Immobilienfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac geflossen. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht hat dieser Strom von Ersparnissen aus Asien in die Vereinigten Staaten das Leistungsbilanzdefizit der Amerikaner gegenüber den Asiaten finanziert. (Eine moderne Kritik am Konzept der “Ersparnisschwemme” haben Borio/Disyatat verfasst.)
In Deutschland vertritt vor allem der Ökonom Carl Christian von Weizsäcker die These der Ersparnisschwemme. Zwar gibt es in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern einen erheblichen Investitionsbedarf, wegen der häufig sehr unsicheren Eigentumsrechte fließt die sich in diesen Ländern bildende Ersparnis allerdings zu einem erheblichen Teil in die Industrienationen ab, weil dort die Eigentumsrechte besser gesichert erscheinen. Die Renditen sind in den Industrienationen extrem niedrig, weil dem Ersparnisangebot keine ausreichende private Nachfrage für Sachinvestitionen entgegen steht: Der größte Teil des Sachkapitals besteht aus Immobilien, aber gerade dort besteht keine sehr starke Nachfrage – in Ländern wie Spanien gibt es sogar ein Überangebot an Immobilien.
Fazit: Wenn die These der globalen Ersparnisschwemme richtig ist, sind die aktuell sehr niedrigen Anleiherenditen nicht durch die Geldpolitik verzerrt, sondern das Ergebnis des Zusammentreffens von realem Kapitalangebot und realer Kapitalnachfrage. In diesem Falle spricht nichts dagegen, dass sehr niedrige Anleiherenditen, wie in Japan seit vielen Jahren, zu einer “neuen Normalität” werden mit einer nicht bezifferbaren Dauer.
Andere Ökonomen sehen in einer „Bankenschwemme” eine wesentliche Ursache für den Boom bis zum Jahre 2007 und die anschließende Krise. Beispielhaft lässt sich dies zeigen anhand des außerordentlich starken Wachstums europäischer Banken, nicht nur im nationalen, sondern vor allem auch im internationalen Geschäft; in der Grafik dargestellt anhand der Deutschen Bank und der britischen Barclays Bank. Besonders aktiv waren Großbanken aus der Schweiz, Großbritannien, Deutschland und Frankreich.
Für dieses Wachstum werden im wesentlichen drei Gründe genannt: Es handelt sich erstens um eine Politik billigen Geldes durch Notenbanken, die Kreditaufnahmen der Banken beförderte. Die Einführung des Euro und einer gemeinsamen Geldpolitik hat zudem die grenzüberschreitende Kreditvergabe in der Währungsunion vorangetrieben. Zweitens haben die Aufsichtsregeln („Basel 2″) die Expansion der Banken nicht gebremst, solange diese scheinbar sichere Kapitalanlagen erwarben. Und drittens hatte der Preisanstieg für viele Vermögensanlagen die Bilanzen der Banken (scheinbar dauerhaft) gestärkt.
Arbeiten des koreanischen Ökonomen Hyun Song Shin (zum Beispiel hier und hier und hier) zeigen, dass in den Jahren bis 2007 nicht nur die Vereinigten Staaten das Zielland für die Geschäftsausweitung der europäischen Banken dargestellt haben, sondern auch Länder wie Australien, die Türkei, Chile und Korea. Besonders aktiv waren die europäischen Banken in den Vereinigten Staaten, wo sie Fristentransformation betrieben: Sie nahmen bei amerikanischen Geldmarktfonds kurzfristiges Geld auf, dass sie in längerfristige Verbriefungen von Immobilien- und anderen Krediten investierten. Während die Asiaten ihre Ersparnisse überwiegend in langweilige, aber sichere amerikanische Staatsanleihen investierten, kauften die europäischen Banken nur scheinbar sichere Verbriefungen von Krediten, die sich in der Krise als nicht sehr sicher erwiesen.
Ein Punkt, auf den vor allem Shin hinweist, ist das sehr starke Wachstum der sonstigen Verbindlichkeiten in den Bankbilanzen, während das Eigenkapital fast keine Rolle spielte. Im Unterschied zu Kundeneinlagen, die einer Bank normalerweise langfristig zur Verfügung stehen, handelt es sich bei den sonstigen Verbindlichkeiten überwiegend um Ausleihungen an den Geld- und Kapitalmärkten, die gerade in Krisen weniger zuverlässig zur Verfügung stehen als Kundeneinlagen.
Seit dem Zusammenbruch der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers hat sich das Umfeld für die europäischen Banken erheblich verändert. Die amerikanischen Geldmarktfonds zeigten ein deutlich geringeres Interesse an Dollar-Papieren europäischer Banken, worauf diese anfingen, ihr Geschäft in Amerika wie auch in anderen Ländern zu reduzieren – unter anderem durch eine Rückführung des Kreditvolumens. (Daraufhin sprangen die Zentralbanken ein, um die Refinanzierung europäischer Banken in Dollar zu garantieren. Mittlerweile hat sich die Lage wieder ein wenig entspannt.) Diese Geschäftsreduzierung, bei der das Verhältnis von Schulden zu Eigenkapital geringer wird („Deleveraging”) geringer wird, lässt sich anhand der Bilanzen großer europäischer Banken beobachten. Er geht aber in Amerika schneller vor sich.
In Europa besitzt dieser Prozess eine stärkere Rückwirkung auf die Realwirtschaft als in Amerika, weil der Unternehmenskredit in Europa eine stärkere Rolle spielt als die Unternehmensfinanzierung durch die Ausgabe von Anleihen. Wenn, wie in Spanien durch die Immobilienkrise bedingt, die Qualität der Kredite zurückgeht, wird die Refinanzierung an Geld- und Kapitalmärkten für die Banken schwierig.
In Europa führte diese Entwicklung zu mehreren Konsequenzen: Die Europäische Zentralbank (EZB) hat den Banken in zwei Sondergeschäften erhebliche Liquidität zu sehr niedrigen Zinsen zur Verfügung gestellt. Damit soll jenen Banken, die sich nicht mehr über die Märkte refinanzieren können, die Illiquidität erspart bleiben. Außerdem war zumindest ein Nebengedanke, dass die Banken in der Peripherie zumindest einen Teil des neuen Geldes für den Kauf von Staatsanleihen ihrer Länder verwenden würden – was sie denn auch taten. Gleichzeitig haben erhebliche Kapitalflüsse von der Peripherie in den Kern der Währungsunion stattgefunden, die zu – zwischenzeitlich erheblichen – Ausweitungen der Renditedifferenzen und zu historisch niedrigen Renditen in Ländern wie Deutschland beigetragen haben.
Fazit: Wenn die These der durch zu expansive Geldpolitik beförderten Bankenschwemme stimmt, könnte sich am Markt für Staatsanleihen aus vielen Industrienationen eine Kursblase gebildet haben, die sich spiegelbildlich in niedrigen Renditen äußert. Da Spekulationsblasen nach aller Erfahrung irgendwann platzen, dürften sie sehr niedrigen Renditen keinen Bestand haben.
Gleichwohl ist die Rolle der expansiven Geldpolitik für die Renditen von Anleihen nicht ganz klar. Die Bank of England ist der mit weitem Abstand größte Eigentümer britischer Staatsanleihen, während die EZB – soweit bekannt – keinerlei Staatsanleihen Frankreichs angekauft hat. Trotzdem liegen die Renditen kurzfristiger Anleihen in Frankreich unter den Renditen britischer Kurzläufer und der Renditevorsprung zehnjähriger französischer Papiere gegenüber britischen „Gilts” hat sich zuletzt verringert. Marktteilnehmer begründen diese Einengung des Spreads mit der Annahme, dass nach Frankreich auch Großbritannien sein AAA-Rating verlieren dürfte – obwohl Großbritannien im Unterschied zu Frankreich über eine eigene Notenbank verfügt. Die Renditen von Staatsanleihen skandinavischer Länder befinden sich ebenfalls nahe historischen Tiefstständen, obgleich die Notenbanken in diesen Ländern keine Anleihen kaufen. Selbst eine zehnjährige Staatsanleihe Kolumbiens rentiert nur mit 2,85 Prozent.
Und noch eine andere Beobachtung: Manche Kapitalmarktteilnehmer sagen, der Markt für Staatsanleihen sei wegen der Geldpolitik und anderer politischer Eingriffe völlig verzerrt, hingegen weise der Markt für Kreditausfallderivate (CDS) auf Staatsanleihen solche politischen Verzerrungen nicht aus. Insofern sei der CDS-Markt der aussagefähigere Markt. Nun ist der CDS-Preis für eine fünfjährige Bundesanleihe in den vergangenen Wochen sehr stark gefallen und beträgt nun nur noch rund 30 Basispunkte. Wie erklärt sich diese Entwicklung? Ist nun auch der CDS-Markt politisch gestört?
Inwieweit die, historisch betrachtet, sehr niedrigen Renditen in der Welt eher das Ergebnis einer internationalen Ausbreitung expansiver Geldpolitik in Industrienationen – seit langem ohne spürbare Zunahme der Inflationserwartungen – darstellen oder doch eher auf eine „Ersparnisschwemme” zurückgeführt werden können, ist nicht ganz klar.
Unser Fazit: Vermutlich sind beide Erklärungen zutreffend – die Existenz einer unter anderem durch Geldpolitik beförderten Bankenschwemme ist unbestreitbar. Wir vermuten allerdings, dass man auch auf das Konzept der Ersparnisschwemme zurückkommen muss. Mit anderen Worten: Die Renditen sind nach dieser Interpretation (die man empirisch überprüfen müsste) aus fundamentalen Gründen niedrig; ein gewisses Maß an Spekulation mag hinzukommen, wäre aber keineswegs alleinerklärend.
Dieser Beitrag ist eine erweiterte und überarbeitete Version eines Artikels, der am 11. Dezember 2011 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist.