Ein halbes Jahrzehnt nach der Finanzkrise haben von zwölf Ländern, die besonders stark von der Krise betroffen waren, gerade mal zwei im Pro-Kopf-Einkommen das Vorkrisenniveau erreicht: die Vereinigten Staaten und Deutschland. Zu diesem Ergebnis kommen die Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff in einer Studie, deren Entwurf sie auf der Jahrestagung der American Economic Association in Philadelphia vorgestellt haben.
Niedriger als das Vorkrisenniveau lag das Pro-Kopf-Einkommen zuletzt in Frankreich, Island, Irland, Ukraine und im Vereinigten Königreich. Schlimmer noch sind Griechenland, Italien, Niederlande, Portugal und Spanien dran. Dort schrumpfte das Pro-Kopf-Einkommen im vergangenen Jahr sogar immer noch. In Griechenland liegt es 24 Prozent niedriger als vor der Krise. All diese Länder werden nach Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) erst in den Jahren bis 2018 den Tiefpunkt hinter sich gelassen haben. Rogoff, der früher selbst Chefvolkswirt des IWF war, merkte dabei in Philadelphia ungerührt an, dass die Prognosen des Fonds aufgrund politischen Drucks der Tendenz nach eher zu optimistisch seien.
Die Ergebnisse verdeutlichen so oder so, dass die wirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise noch bei weitem nicht überstanden sind. Selbst für Amerika und Deutschland gilt, dass sie – gemessen am verlorenen potentiellen Wachstum während der Krisenjahre – noch deutlich aufzuholen haben. Nur relativ zum Vorkrisenstand stehen sie schon gut da. Reinhart und Rogoff fokussieren in ihrer Studie dabei auf das Pro-Kopf-Einkommen (Bruttoinlandsprodukt je Einwohner), weil damit im historischen Vergleich auch die Auswirkungen wachsender oder stagnierender Bevölkerungen erfasst werden.
Mit der Dauer der Erholung verschieben sich die Vergleichsmaßstäbe. 2007/08 war allgemein von einer Jahrhundertkrise die Rede und von der schwersten Krise seit der sogenannten Großen Depression in den dreißiger Jahren. Nach dem jetzigen Zwischenstand war die jüngste Krise für Griechenland, Italien und das Vereinigte Königreich indes schon schlimmer als die Wohlstandsverluste in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, analysieren die beiden Ökonomen.
Rogoff betonte, dass seine Koautorin und er mit der Studie keine politischen Empfehlungen abgeben wollten. Dennoch konnten die beiden sich den Hinweis nicht verkneifen, dass ohne Ent- und Umschuldung in den Krisenländern die Verwerfungen nur noch länger andauern würden.
Eine interessante Frage ließen beide leider unbeantwortet. Wie kommt es, dass in der untersuchten Ländergruppe ausgerechnet Amerika und Deutschland die Rangliste der wirtschaftlichen Erholung nach der Krise anführen? Beide verfolgen doch so unterschiedliche Wirtschaftspolitiken. Die Amerikaner erzählen ständig, dass die deutsche Regierung zu sehr auf eine solide Haushaltspolitik achte und fiskalisch zu streng sei. Und die Deutschen halten im Gegenzug den Amerikanern vor, zu viele Schulden zu machten. Deutet das Ergebnis der Reinhart-Rogoff-Studie an, dass keine dieser Vorhaltungen alleinige Gültigkeit beanspruchen darf?
PS: Reinhart und Rogoff waren im vergangenen Jahr wegen eines Rechenfehlers scharf unter Kritik geraten. Davon war in Philadelphia nur noch ganz am Rande die Rede. Beide traten während der Jahrestagung der AEA auf mehreren Panels auf, was die ungebrochene Wertschätzung für ihre Arbeit zeigt. Der jetzige IWF-Chefvolkswirt Olivier Blanchard lobte in einer Veranstaltung ausdrücklich die Arbeit der beiden Ökonomen und merkte an, dass die Kritik an einzelnen Zahlen nicht ins Gewicht fiele.
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