Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Lieber Ingenieur als Priester

Viele moderne Ökonomen interessieren sich mehr für Daten als für Glaubensbekenntnisse.

Manchmal fällt unter liberalen Ökonomen der Satz: „Gäbe es doch nur einen neuen Milton Friedman!“ Gemeint ist weniger der theoretische Ökonom Friedman als vielmehr der Verkünder einer weit über Wirtschaftsthemen hinausreichenden liberalen Agenda, wie sie unter anderem in den Büchern „Capitalism and Freedom“ und „Free to Choose“ enthalten ist und in Gestalt alter Videos im Internet betrachtet werden kann.

Aber es gibt keinen neuen Milton Friedman und wer auf einen wartet, ist hoffnungslos in der Vergangenheit hängen geblieben. Das ist die These Noah Smiths, eines jungen amerikanischen Finanzökonomen von der nahe New York gelegenen Stony Brook University, der in einem viel beachteten Blog namens „Noahpinion“ und in im Internet populären Zeitschriften über allerlei ökonomische Themen schreibt und so ein weitaus größeres Publikum erreicht als ein traditioneller Professor.

Smith hat den Wandel in den Wirtschaftswissenschaften der vergangenen Jahrzehnte nun in einem flott geschriebenen Beitrag *) unter der These zusammen gefasst: Die Ökonomen ähnelten ehemals Priestern und haben sich heute Ingenieuren angenähert. Damit sind sie sehr viel weniger ideologisch geworden, aber dafür sehr viel nützlicher.

Als wesentliche Ursache dieses Wandels macht Smith die digitale Revolution aus, als deren Folge Ökonomen weitaus mehr Daten zur Verfügung stehen als früher. Zu Friedmans Zeiten, so Smith mit der Unbekümmertheit der Jugend, hätten die Ökonomen kaum Daten besessen und seien daher mehr oder weniger gezwungen gewesen, über wirtschaftliche Fragen zu philosophieren – mit manchmal brauchbaren, oft aber völlig unbrauchbaren Ergebnissen. Heute aber, so Smith, arbeiteten Ökonomen überwiegend empirisch und gelangten so zu viel besser abgesicherten Erkenntnissen.

Die unterschiedlichen Ansätze lassen sich anhand des Mindestlohns beschreiben. Eine Antwort à la Friedman lautete wohl sinngemäß: „Ein Mindestlohn ist grundsätzlich schlecht, weil er einen staatlichen Eingriff in die freie Preisbildung darstellt.“ Wer noch Friedrich von Hayeks schiefe Ebene konsultierte, könnte sinngemäß ergänzen: „Ein Staatseingriff zieht unweigerlich den nächsten nach sich und so verwandelt sich ein freies Staatswesen unaufhaltsam in unfreien Sozialismus.“

Für einen modernen Ökonomen wie Smith wären solche Äußerungen Ausprägung eines Priestertums – die Verkündigung eines Glaubensbekenntnisses, an das man glauben kann oder auch nicht. Ein solcher Ökonom würde dem Priester antworten: „Beweise mir Deine Behauptung erst einmal konkret.“ Dies aber erforderte aus der Sicht eines modernen Ökonomen Arbeit mit Daten. Dementsprechend existieren zahlreiche empirische Untersuchungen zu Mindestlöhnen mit je nach Land, Branche und Mindestlohnhöhe sehr unterschiedlichen Ergebnissen.

Dieser empirische Ansatz hat nach Meinung Smiths dazu geführt, dass die meisten amerikanischen Ökonomen immer noch grundsätzliche Befürworter der Marktwirtschaft sind, aber ziemlich pragmatisch an die Frage eventueller Staatseingriffe heran gehen. Dies gelte auch für viele Ökonomen, die politisch den Republikanern nahe stünden. In praktisch jedem Lehrbuch fänden sich heute Beispiele für Marktversagen und neben alte Begründungen wie externe Effekten oder die Existenz öffentlicher Güter seien längst neuere getreten wie eine asymmetrische Verteilung von Informationen oder moralische Versuchungen („moral hazard“). Wobei aus der Diagnose eines Marktversagens nicht zwingend ein Staatseingriff folgt: Viele moderne Ökonomen nähern sich solchen Fragen ergebnisoffen. **)

Das weiter entwickelte Verständnis von Märkten durch moderne Ökonomen eröffnet praktische Nutzanwendungen und nähert diese Ökonomen anderen praktischen Problemlösern wie Ingenieuren an. Smith nennt zunächst das bekannte Beispiel des mehreren Studentengenerationen bekannten Lehrbuchautors und Mikroökonom Hal Varian, der von der Universität als Chefökonom zu Google wechselte. Varians exzellenter Kenntnisse der Auktionstheorie verdanke Google einen erheblichen Teil seines Erfolges, schreibt Smith. Außerdem erwähnt er die Arbeiten der Nobelpreisträger Al Roth und Lloyd Shapley, deren Theorien bei der Verteilung von Spendernieren Anwendung finden.

Fraglos beschreibt Smith mit der stärkeren Fokussierung auf empirische Arbeiten einen Trend in der Wirtschaftswissenschaft und es ist wahr, dass Ökonomen, die den Untergang in Aussicht stellen, wenn man ihre Glaubensbekenntnisse in den Wind schlägt, heute eher kurios wirken. Und doch ist Smiths Darstellung zu pointiert. Die Ökonomie umfasst mehr als das Arbeiten an konkreten Problemen, sondern auch – im Rahmen ihrer fraglos begrenzten Möglichkeiten – ein zumindest kleines Stück Welterklärung.

In dieser Hinsicht ist es interessant, sich zwei Wirtschaftsbücher anzusehen, die auch außerhalb der Fachwelt Aufmerksamkeit gefunden haben. „Warum Nationen scheitern“ von Daron Acemoglu und James Robinson (hier unsere Rezension)  sowie „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty (hier ist eine FAZIT-Rezension) sind weit ausgreifend in Zeit und Raum und reich an Beispielen. Sie wollen grundlegende Phänomene – hier die Ursachen langfristigen wirtschaftlichen Wohlstands, dort langfristige Trends in der Vermögensverteilung – behandeln, wenden sich an ein breites Publikum und enthalten zumindest im Falle Pikettys auch eine politische Botschaft. Verfasst sind diese von Schwächen keineswegs freien Bücher nicht von Schwätzern, sondern von Ökonomen, die das moderne theoretische und empirische Handwerk beherrschen und in angesehenen Fachzeitschriften publizieren. Wissenschaftlich starke Ökonomen, die für ein breites Publikum relevante Themen auf interessante Weise präsentieren, dürften auch in Zukunft Leser finden, weil das Interesse an Wirtschaftsfragen weit verbreitet ist.

In diesem Zusammenhang lässt sich dann auch Milton Friedman erwähnen, der eben nicht nur den Typus des Priesters verkörperte, sondern auch ein exzellenter Ökonom war. Seine mit Anna Schwartz verfasste, mehr als ein halbes Jahrhundert als Geldgeschichte der Vereinigten Staaten wird noch heute in Arbeiten zu schweren Wirtschaftskrisen zitiert und wenn auch die in dem Buch enthaltene Erklärung der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre nicht unumstritten geblieben ist, so wird sie doch immer noch stark beachtet.

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*) Hier hat Smith noch einmal nachgelegt.

**) Dass diese Schilderung der Realität entspricht, zeigen regelmäßige Befragungen von Ökonomen zu aktuellen Themen.

Dieser Beitrag ist am 18. Mai 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen.