Der Renditeanstieg für europäische Staatsanleihen hat in den vergangenen Wochen viele Anleger auf dem falschen Fuß erwischt. Ein bekannter Ökonom vertritt die Auffassung, dass der Herdentrieb zahlreiche Finanzmarktteilnehmer in die Irre geführt hat.
Vor sechs Wochen hatte eine zehnjährige Bundesanleihe nur noch mit 0,07 Prozent rentiert; derzeit sind es 0,88 Prozent. Zu sicher waren sich viele Investoren über die Dauerhaftigkeit von Renditen von null oder sogar unter null Prozent und als Grund wurden die umfangreichen Käufe von Anleihen durch die Europäische Zentralbank genannt. Der Chefökonom der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, hat diese sehr verbreitete Wahrnehmung in einem in der F.A.Z. (7. Juni) erschienenen, sehr bemerkenswerten Beitrag als „kollektiven Irrflug“ bezeichnet und als Beispiel für die vorübergehende Verzerrung von Marktpreisen durch den Herdentrieb an Finanzmärkten geschildert.
Theoretisch versierte Ökonomen wussten seit langem, dass ein nachhaltiger Einfluss eines solchen Anleihekaufprogramms auf die Renditen von Anleihen möglich, aber keineswegs sicher ist. (Wir hatten die theoretischen Argumente für und gegen die Wirkung von Anleihekäufen im September 2014 in einem FAZIT-Beitrag geschildert.) Viele Praktiker wussten, dass in anderen Ländern, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien, die Renditen wenige Wochen nach Beginn von Anleihekaufprogrammen gestiegen waren. Dies wurde jedoch ignoriert. Stattdessen redete man sich in Europa ein, dass die Renditen mit der EZB eigentlich nur fallen könnten und dementsprechend glaubten auch nicht wenige Großanleger, man habe mit dem Kauf von Euro-Staatsanleihen eine Art Lizenz zum Gelddrucken. “Niemand möchte – mangels eigener Überzeugung – einen Trend verpassen, wobei die Richtung nahezu beliebig wird”, schreibt Folkerts-Landau. Garniert wurde dieses Verhalten von Katastrophenökonomen aus der randständigen Österreichischen Schule, von denen zu vernehmen war, dass die Renditen sowieso nicht steigen könnten, weil dann die Staatshaushalte der Krisenländer kollabierten.
In den vergangenen Wochen sind die Renditen vor allem am langen Laufzeitende deutlich gestiegen, obwohl die Europäische Zentralbank weiterhin für rund 60 Milliarden Euro im Monat Wertpapiere kauft. Angst vor einer nachlassenden Bonität der Staaten als Folge höherer Renditen ist (vom Sonderfall Griechenland abgesehen), nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Die Renditen zehnjähriger italienischer Staatsanleihen sind in den vergangenen sechs Wochen um mehr als 100 Basispunkte geklettert – aber gleichzeitig sind die Prämien für Versicherungen (CDS) gegen einen Zahlungsausfall bei italienischen Staatsanleihen gesunken. War während des Renditeverfalls im Frühjahr die Rede davon, dass die von der EZB erzeugte Geldschwemme die Märkte ertränke, wird nun plötzlich über eine austrocknende Liquidität geklagt. “Wir fokussieren in unserer Not auf einen – häufig eher nebensächlichen – Aspekt und fühlen uns bestätigt, wenn andere den gleichen Aspekt betonen, obwohl diese letztlich genauso im Nebel stochern wie man selbst”, konstatiert Folkerts-Landau.
Dabei war spätestens seit dem vergangenen Jahr selbst auf dem im Vergleich umsatzstarken amerikanischen Markt erkennbar, dass die Liquidität im Anleihehandel deutlich nachgelassen hatte. (Wir hatten das Phänomen im Oktober 2014 in FAZIT behandelt, nachdem es vor allem am amerikanischen Markt zu einem Thema geworden war.) Hierfür existieren mehrere Gründe wie Regulierungen, die den Eigenhandel der Banken erschweren, den freiwilligen Rückzug von Banken als Folge der Eigenkapitalvorschriften sowie die Käufe von Zentralbanken. Vielmehr ist es wohl so, dass der kräftige Rückgang der europäischen Renditen im Frühjahr auch durch eine nachlassende Liquidität befördert worden war. Steigende Volatilität als Folge niedriger Umsätze wirkt in beide Richtungen.
Werden Anleihen jetzt attraktiver?
Die Frage bleibt: Werden Anleihen durch den jüngsten Renditeanstieg als Anlageklasse attraktiver, nachdem viele Vermögensverwalter in der jüngeren Vergangenheit mit Blick auf ein ungünstiges Verhältnis von Chancen und Risiken Anleihebestände reduziert hatten? Steigende Renditen werden von vielen Anlegern vor allem unter dem Gesichtspunkt von Kursverlusten auf laufende Anleihebestände betrachtet. Diese Kursverluste existieren natürlich, aber realisiert werden sie nur dann, wenn der Anleger die Papiere während der Laufzeit verkauft. Den Kursverlusten auf vorhandene Bestände stehen höhere Kupons bei Neuanlagen entgegen. Für Banken ist eine steile Renditestrukturkurve zudem vorteilhaft, weil sich dann wieder mehr lohnt, kurzfristig aufgenommenes Geld längerfristig anzulegen. (Auf diese Zusammenhänge hatte im Januar 2015 der Princeton-Ökonom Nobuhiro Kiyotaki in einem Gespräch mit FAZIT verwiesen.)
Ein Problem besteht in der aktuellen Lage in einer fundamental richtigen Bewertung von Anleihen. Wie eine zehnjährige Bundesanleihe idealerweise bewertet sein müsste, ist umstrittener. Es gibt Teilnehmer, die für die aktuelle Bewertung bei einer Rendite von 0,85 Prozent plädieren; andere führen eine Rendite von 1,25 Prozent ins Feld.
Noch immer gibt es am europäischen Anleihemarkt Teilnehmer, die der Auffassung sind, dass der jüngste Renditeanstieg vor allem ein markttechnisch erklärbares Phänomen darstellt, das aber eine überzeugende fundamentale Begründung fehlt. Als ein markttechnischer Einfluss wird unter anderem ein sehr hohes Volumen von neuen Anleihen mit langen Laufzeiten in den vergangenen Wochen gesehen, dem nur wenige Tilgungen fälliger Anleihen entgegen gestanden haben. Dieses Verhältnis wird sich allerdings im Sommer umkehren: Im Juli fallen sehr viele Tilgungen an, aber es werden nur wenige neue Anleihen begeben. Anhänger dieser These gehen von einem spürbaren Rückgang der Renditen im Sommer aus.
Man kann im Renditeanstieg der vergangenen Wochen aber auch ein fundamental erklärbares Ereignis sehen, das durch Markttechnik und Herdentrieb lediglich verstärkt worden ist. In diesem Falle erlebten wir derzeit tatsächlich eine Zinswende. Nach dieser Erklärung waren die Renditen von Oktober 2014 bis April 2015 unter dem Eindruck stark rückläufiger Inflationsraten gesunken, die zu einer Debatte über Deflation in der Eurozone führten. Dieser Rückgang der Inflationsrate war stark durch den Verfall des Ölpreises geprägt, aber seit Januar 2015 fällt der Ölpreis nicht mehr. Stattdessen steigt die Inflationsrate wieder – wenn auch nicht dramatisch. Der Anstieg der Anleiherenditen reflektiert den Abschied des Deflationsszenarios und die Erkenntnis, dass in absehbarer Zeit mit einem (leichten) Anstieg der Inflationsrate zu rechnen ist – auch als Folge einer stärker als erwarteten Beschleunigung der Konjunktur in der Euro-Zone.