Neue Studien nennen Ursachen des Zinsrückgangs der vergangenen Jahrzehnte. Viele dieser Einflüsse sind immer noch am Werk.
Die extrem niedrigen Zinsen in den Industrienationen sind ein für viele Sparer ärgerliches Ereignis und eine für viele Ökonomen nicht leicht erklärbare Entwicklung. Denn der Rückgang des Zinses wird zwar erst seit wenigen Jahren thematisiert, aber tatsächlich handelt es sich um ein Phänomen, das schon vor rund drei Jahrzehnten begonnen hat. Und es handelt sich nicht um ein auf Europa beschränktes, sondern um ein globales Phänomen. Offenbar sind hier sehr langfristig wirkende Einflüsse am Werk. Ein Teil des Zinsrückgangs lässt sich auf den Rückgang der Inflationsraten in den Industrienationen zurückführen; die Inflationsraten liegen heute nahe null Prozent. Aber das Verschwinden der Inflation erklärt den säkularen Zinsrückgang nur zu einem Teil: Auch der Realzins, das ist der um die Inflationsrate bereinigte Zins, ist deutlich gesunken. Anders als auf die Inflationsrate hat die Geldpolitik nach gängigen ökonomischen Theorien auf den Realzins allenfalls einen kurz- bis mittelfristigen, aber keinen dauerhaften Einfluss.
In Untersuchungen der langfristigen Entwicklung des Realzinses schauen Ökonomen gerne auf die inflationsbereinigten Renditen von Staatsanleihen aus großen Industrienationen, weil diese Renditen zumindest in der Vergangenheit kaum durch Aufschläge für Bonitätsrisiken oder eine geringe Liquidität verzerrt waren. In den Märkten für Unternehmensanleihen mit erstklassiger Bonität ist die Liquidität hingegen deutlich geringer.1) In manchen Studien wird alleine die Rendite zehnjähriger amerikanischer Staatsanleihen betrachtet, da sie als maßgebend für die Entwicklung an den Anleihemärkten der Welt gilt.
Einen interessanten Versuch, die Bestimmungsgründe langfristig rückläufiger Realzinsen zu ermitteln, haben mit Lukasz Reichel und Thomas Smith zwei Ökonomen der Bank of England unternommen (hier und hier). Ihrer Analyse haben sie den sogenannten realen Weltzins zugrunde gelegt, ein erst vor kurzem entwickeltes Konzept. Dieser Weltzins wird als Durchschnitt der Rendite zehnjähriger inflationsgeschützter Staatsanleihen führender Industrienationen berechnet. Dieser Weltzins ist in den vergangenen 25 Jahren um rund 4 Prozentpunkte zurück gegangen und nur ein Teil dieses Rückgangs entfällt auf die Jahre nach dem Ausbruch der jüngsten Finanzkrise.
Die Höhe des Realzinses ist unter anderem vom Wirtschaftswachstum abhängig. Als Folge eines langsameren Bevölkerungswachstums in der Welt und einer schwachen Produktivitätsentwicklung halten Reichel und Smith eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in der Welt für wahrscheinlich, die sich bereits in Form eines Rückgangs des realen Weltzinses um rund einen Prozentpunkt niedergeschlagen hat. Fast ebenso wichtig ist die Rolle der Demografie: In den vergangenen 30 Jahren hat sich der Anteil der arbeitenden Menschen an der Gesamtbevölkerung in der Welt vergrößert. Dies hat zu höheren Sparquoten geführt (Ersparnisse werden meist von arbeitenden Menschen gebildet), als deren Folge der Realzins um rund 0,90 Prozentpunkte zurückgegangen ist. Wichtig ist, dass sich dieser den Realzins dämpfende Effekt allmählich abschwächen dürfte, da mit der Alterung der Bevölkerung der Anteil der arbeitenden Menschen an der Gesamtbevölkerung zurückgehen wird.
Reichel und Smith nennen weitere Gründe für den langfristigen Rückgang des Realzinses wie eine Umverteilung zugunsten von Reichen, die viel Geld sparen, fallende Preise für Investitionsgüter, rückläufige öffentliche Investitionen sowie zunehmende Risiken aus Investitionen. Besonders interessant ist, dass nach Einschätzung der beiden Autoren die zuerst von Ben Bernanke thematisierte Ersparnisschwemme nur eine geringe Rolle für die Erklärung des rückläufigen Realzinses beanspruchen kann. Ihr Einfluss wird auf lediglich 0,25 Prozentpunkte geschätzt und dieser Effekt könnte sich sogar allmählich umkehren. Bernankes Argument, das im Laufe der Jahre häufig zitiert worden ist, besagt, dass erhebliche Kapitalzuflüsse aus den Schwellenländern die Anleiherenditen in den Vereinigten Staaten nachhaltig gedrückt hätten.
Reichel und Smith weisen darauf hin, dass ihre Schätzungen notwendigerweise mit Unsicherheiten behaftet sind und sie auch nicht beanspruchen, den Rückgang des realen Weltzinses vollständig zu erklären. Ihre Prognose lautet, dass sich in den kommenden Jahren am sehr niedrigen realen Weltzins wenig ändern dürfte.
Eine zweite aktuelle Untersuchung über die Gründe für den langfristigen und in der Vergangenheit von Finanzmarktteilnehmern wie Ökonomen unterschätzten Rückgang des Zinses stammt vom amerikanischen Council of Economic Advisors, dem Expertengremium, das den Präsidenten in Wirtschaftsfragen berät (hier und hier). Beteiligt an der Untersuchung war Maurice Obstfeld, der designierte Chefökonom des Internationalen Währungsfonds. Anders als Reichel und Smith unternehmen die amerikanischen Ökonomen keinen Versuch, die auf den Rückgang des Zinses wirkenden Einflüsse zu quantifizieren. Statt dessen treffen sie eine Unterscheidung zwischen mutmaßlich dauerhaften und mutmaßlich vorübergehenden Einflüssen auf den säkularen Rückgang des langfristigen Zinses. Es finden sich Parallelen zur Arbeit von Reichel und Smith, aber auch Unterschiede.
Zu den vermutlich langlebigen Einflussgrößen auf den Zins zählen die Ökonomen das Wirtschaftswachstum und die Produktivität. Internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank haben ihre langfristigen Prognosen für das Wirtschaftswachstum in der Welt reduziert. Ob diese Einschätzung zutrifft, ist unklar. Sollte sie jedoch zutreffen, würde das langsamere Wirtschaftswachstum den langfristigen Zins niedrig halten. Als weitere dauerhafte Einflussfaktoren werden die Demografie und eine globale Ersparnisschwemme erwähnt. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der seit einigen Jahren von manchen Ökonomen behauptete Mangel an sicheren Kapitalanlagen. Eine starke Nachfrage und ein begrenztes Angebot an solchen Anlagen, in Frage kommen unter anderem amerikanische und deutsche Staatsanleihen, sorgt für hohe Preise und im Gegenzug niedrige Renditen.
Die seit Ausbruch der Krise in vielen Ländern betriebene expansive Finanz- und Geldpolitik hat nach Überzeugung der amerikanischen Experten vor allem die langfristigen Zinsen gesenkt, doch wird dieser Effekt ebenso als vorübergehend eingeschätzt wie die außergewöhnlich niedrigen Abstände zwischen kurz- und langfristigen Zinsen. Beigetragen zum Rückgang der Zinsen hat in den vergangenen Jahren auch die Reduzierung der Verschuldung in vielen Banken und privaten Haushalten, aber auch dieser Effekt wird nur als vorübergehend eingeschätzt. “Es gibt keine keine definitive Antwort auf die Frage, wie lange die aktuelle Niedrigzinsphase andauert”, schreibt Obstfeld in einem Beitrag. “Die meisten Faktoren legen die Vermutung nahe, dass die langfristigen Zinsen auf lange Sicht unter ihren Niveaus aus der Zeit vor der Finanzkrise bleiben werden.” Dies ist auch die an den Finanzmärkten verbreitete Ansicht: Dort wird in den kommenden zehn Jahren für langlaufende amerikanische Staatsanleihen ein Anstieg der Rendite von 2 auf lediglich rund 3 Prozent erwartet.
Einen etwas anderen Blick auf die Bestimmungsgründe des säkularen Rückgangs langfristiger Zinsen werfen die Ökonomen Jhuvesh Sobrun und Philip Turner in einem von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich herausgegebenen Arbeitspapier. Für die Jahre 2000 bis 2008 halten sie Bernankes These einer Ersparnisschwemme für plausibel, da in diesen Jahren die Ersparnisse vor allem in den Schwellenländern sehr stark gestiegen sind: “Dies hat global Druck auf die langfristigen Zinsen ausgeübt.” Mit dem Ausbruch der Finanzkrise hat sich die Situation allerdings geändert, da sich die Sparquoten in den Schwellenländern stabilisierten. Verwandt mit der Ersparnisschwemme ist die These, dass als Folge der alternden Gesellschaft einer wachsenden Nachfrage nach Finanzanlagen (die Menschen wollen für ihren voraussichtlich langen Ruhestand viel sparen) ein nicht ausreichendes Angebot an Sachkapital entgegen stehen wird. Diese These, die von dem deutschen Ökonomen Carl Christian von Weizsäcker vertreten wird, führt ebenfalls zu einem Druck auf den Zins.
Desweiteren sehen Sobrun und Turner Wirkungen der Geldpolitik auf den langfristigen Zins. Sie führen unter anderem die von Zentralbanken wie der Fed, der Bank of England, der Bank of Japan sowie der EZB betriebenen umfangreichen Käufen von Wertpapieren an: “Diese großflächigen Käufe der Zentralbanken haben nachweislich die langfristigen Zinsen reduziert.” Diese These ist jedoch umstritten, da mehrere Untersuchungen vorliegen, die solche Wirkungen nur schwer nachweisen können. Außerdem kann das Verhalten der Banken Einfluss auf den Verlauf der Zinskurve nehmen. Wenn die Geldpolitik den kurzfristigen Zins stark sinkt, ermutigt sie Banken zu einem risikoreicheren Verhalten, das sich in einer größeren Bereitschaft zur Fristentransformation niederschlägt: „Wenn sich Banken kurzfristig verschulden, um langfristig Geld zu verleihen, tragen sie zu einer Reduzierung der langfristigen Zinsen bei.”
Der Chefökonom der BIZ und frühere Princeton-Professor Hyun Song Shin hat für ein solches Verhalten, das vor allem in den Jahren vor der Finanzkrise beobachtet werden konnte, den Begriff „Bankenschwemme“ (banking glut) als Alternative zu Bernankes „Ersparnisschwemme“ (savings glut) geprägt. Schließlich existiert an den Kapitalmärkten eine starke Nachfrage nach Kapitalanlagen sehr guter Bonität wie zum Beispiel amerikanischen oder deutschen Staatsanleihen. Diese Nachfrage ist zum Teil einer freiwilligen Anlagepolitik großer institutioneller Kapitalanlager geschuldet, zum Teil ist sie das Ergebnis von Regulierungen. Diese Nachfrage führt zu sehr niedrigen Renditen für solche als sehr sicher eingeschätzte Anleihen.
Zusammengefasst: Immer mehr Ökonomen sehen die aktuelle Niedrigzinsphase als Bestandteil eines langfristigen Trends sinkender Zinsen, der vor mehreren Jahrzehnten begonnen hat. Die Debatte über die Ursachen des jahrzehntelangen Zinsrückgangs hat bis heute zu keinem Konsens geführt und wird vermutlich noch lange weiter gehen.
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1) Hier sind erschütternde Zahlen aus der Citigroup für das Jahr 2014: Von 26.000 notierten amerikanischen Unternehmensanleihen wurden 3.000 überhaupt nicht und 5.000 an höchstens 5 Tagen im Jahr gehandelt. Nur 277 Anleihen wurden täglich gehandelt.