Wirtschaftswachstum und Verteilung, Besteuerung und Staatsverschuldung, stabiles Geld und freier Außenhandel – David Ricardo gilt als einer der großen Ökonomen der klassischen Epoche. Aber mit vielen seiner Themen ist er auch sehr modern, wie ein neues Buch zeigt.
Lang ist es her. Da schrieb Artur Woll in seinem bekannten Lehrbuch über Volkswirtschaftslehre, wer die wichtigsten Werke der klassischen Ökonomen Adam Smith, David Ricardo und John Stuart Mill gelesen habe, sei ein volkswirtschaftlicher Profi. Was lernen heute Studenten über das Werk des britischen Ökonomen David Ricardo (1777 bis 1823)?
Eigentlich müsste ihnen das Theorem der komparativen Kosten begegnen, nach dem sich für jedes Land Außenhandel lohnt. Zum heutigen Grundbestand der Makroökonomie gehört die Beschäftigung mit der „ricardianischen Äquivalenz“. Demnach regen Steuersenkungen die Konjunktur nicht an, da die Menschen in Erwartung späterer Steuererhöhungen zusätzliches Geld nicht konsumieren, sondern sparen. Allerdings hat sich Ricardo mit dem Thema, das er politisch zu nutzen versuchte, theoretisch nicht sehr intensiv befasst; seine moderne Popularität verdankt es einer Arbeit des amerikanischen Ökonomen Robert Barro. Andererseits dürften Konzepte wie die Theorie der Grundrente, die für Ricardo sehr wichtig war, weithin in Vergessenheit geraten sein, obgleich heutzutage, in Zeiten niedriger Zinsen und hoher Schulden, die Bedeutung des Bodens als sichere Kapitalanlage von manchen Ökonomen wieder entdeckt wird.
Muss man heute wissen, was Ricardo vor rund 200 Jahren schrieb? Joseph Schumpeter und John Maynard Keynes hielten Ricardo, der sein Geld als Börsenmakler verdient hatte, dann Parlamentarier wurde und daneben ein belesener und scharf denkender Privatgelehrter war, für überschätzt. Schumpeter prägte den Begriff “Ricardianisches Laster” für seinen Vorwurf, Ricardo habe aus seinen Analysen zu weitreichende Schlussfolgerungen gezogen. Dagegen bezeichnete ihn der Nobelpreisträger Paul Samuelson als einen „Ökonomen für Ökonomen“. Karl Marx ließ sich in seiner ökonomischen Analyse, nicht in den politischen Folgerungen, von Ricardo mehr als von jedem anderen Ökonomen inspirieren. Das – tatsächliche oder vermeintliche – Gesetz vom Fall der Profitrate findet sich bei Ricardo prominent vor Marx; Ricardo sah aber auch die Rolle technischen Fortschritts: „Diese Tendenz wird glücklicherweise immer wieder gehemmt durch Verbesserungen im Maschinenwesen in Verbindung mit der Herstellung lebensnotwendiger Güter, ebenso wie durch Verbesserungen in der Wissenschaft von der Landwirtschaft.“ Als Samuelson in den wilden siebziger Jahren das Werk Marx‘ mit den Worten „Ricardo plus Klassenkampf“ zusammenfasste, wurde er von wütenden Studenten mit Tomaten beworfen.
Einen sehr lehrreichen Einblick in die Arbeit und in die Bedeutung David Ricardos bietet ein von Heinz D. Kurz und Neri Salvadori herausgegebener Band, der 86 Beiträge über Ricardo aus der Feder von 62 Autoren bringt. In der Konzeption des Bandes verbinden sich Stärken und Schwächen. Die Beiträge sind von sehr unterschiedlicher Länge, Bedeutung und auch Lesbarkeit, so wie es bei einer Vielzahl von Autoren auch gar nicht anders sein kann. Der Gewinn liegt in der Fülle von Informationen und Betrachtungen und in der Freiheit des Lesers, für ihn Wichtiges von weniger Bedeutendem zu unterscheiden. Als Schwerpunkt können jede Beiträge gelten die sich mit Ricardos Analyse fundamentaler ökonomischer Begriffe wie Wert, Arbeit und Kapital befassen und mit den Versuchen des Briten, daraus ein Theoriegebilde zu entwickeln.
Kann man daraus etwas lernen? Aber sicher! Heute versuchen Ökonomen, mit Hilfe notwendigerweise unvollständigen empirischem Materials herauszufinden, ob aus der Verteilung von Einkommen oder Vermögen Schlussfolgerungen für das Wirtschaftswachstum abgeleitet werden können. Nichts hilft der Praxis mehr als eine gute Theorie, wusste Ricardo. Und er schrieb zu Beginn seines Hauptwerkes, dem 1817 erschienenen Buch „On the Principles of Political Economy and Taxation“, das Hauptproblem der Politischen Ökonomie sei die Ergründung der Gesetze, aus denen die Aufteilung der Wirtschaftsleistung auf Grundbesitzer, Kapitaleigner und abhängig Beschäftigte folge.
Ricardo stellte jedoch nicht nur das Thema, er bearbeitete es auch – zwar nicht mit der Stringenz moderner mathematischer Modelle, aber mit Geist, Intuition und einer stattlichen Portion gesunden Menschenverstandes. Ricardo war davon überzeugt, dass über die Verteilung der Einkommen Einfluss auf die Preise und damit auch auf das Wirtschaftswachstum entsteht. Aber auch mit vielen anderen wichtigen Themen, darunter dem Geldwesen und der Besteuerung hat er sich befasst. Auch das heute wieder populäre „Maschinenproblem“ – vernichtet technischer Fortschritt per Saldo Arbeitsplätze? – hat der Brite bearbeitet.
Natürlich sieht man heute manches anders als vor rund zwei Jahrhunderten. Speziell die Idee mancher klassischer Ökonomen wie Ricardo, nach der durch die Produktionskosten langfristig bestimmte „natürliche Preise“ besonders wichtig seien, ist dem heutigen Mainstream fremd. Demgegenüber oszillieren bei Ricardo aktuelle Marktpreise um die natürlichen Preise und sind damit nicht sehr bedeutend. „Ich muss zugeben, es erstaunt mich, dass Sie denken, dass natürliche Preise ebenso wie Marktpreise durch Nachfrage und Angebot bestimmt werden“, schrieb Ricardo an seinen langjährigen ökonomischen Sparringspartner Thomas Malthus. Und wie viele andere Ökonomen seiner Epoche unterschätzte Ricardo die Bedeutung, die in Krisenzeiten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zukommen kann.
Einen interessanten Versuch, das Werk Ricardos wieder zu beleben, unternahm Mitte des 20. Jahrhunderts der Ökonom Piero Sraffa, dessen Edition einer Ricardo-Gesamtausgabe als Meisterwerk gilt. Sraffa ist einer der wichtigsten Stichwortgeber für die sogenannte „neoricardianische Schule“ geworden, die allerdings niemals eine große Bedeutung innerhalb der zeitgenössischen Wirtschaftslehre gefunden hat. Aus dieser Schule stammen nicht wenige der Autoren, die zu dem neuen Sammelband beigetragen haben. Das von ihnen zusammengetragene Material ist beeindruckend.
Rüdiger Bachmann und Heiner Flassbeck in einem Boot
Was weise alte Männer geschrieben haben, ist nicht so wichtig:
https://www.socialpolitik.de/De/ich-stimme-heiner-flassbeck-zu-was-werden-die-pluralen-sagen
@ Gerald Braunberger
Mit dem Sammelband von Heinz D. Kurz und Neri Salvadori meinten Sie nicht zufällig „The Elgar Companion to David Ricardo“ (https://www.e-elgar.com/shop/the-elgar-companion-to-david-ricardo), oder? (Titel/ Link habe ich wohl überlesen. ;-) )
By the way: Das European Journal of the History of Economic Thought hatte letztes Jahr auch ein “special issue on Ricardo”, u. a. mit einem interessanten Artikel von Heinz Kurz: David Ricardo: on the art of “elucidating economic principles” in the face of a “labyrinth of difficulties” (The European Journal of the History of Economic Thought, Volume 22, Issue 5, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/09672567.2015.1074713).
Und weil Ihr Link im Kommentar Hayek und Keynes erwähnte, passend dazu noch ein Beitrag von Kurz im Journal of Reviews on Global Economics (Vo. 4, 2015): Capital Theory, Crises, and Business Cycles: The Triangular Debate between Hayek, Keynes, and Sraffa. (Volltext: https://www.lifescienceglobal.com/pms/index.php/jrge/article/view/3471/2022 )
Ricardo, Sraffa & Co gehören zwar nicht unbedingt zu meinen Baustellen, aber ich habe die genannten Beiträge deshalb gerne gelesen, weil sich da zeigt, wie wichtig es wäre, einfach mal genauer in die Texte zu schauen – bzw. die Zeit dafür zu haben.
Damit zu Ihrem Link: Da wollte ich zunächst schreiben, dass der Inhalt des Links in den entsprechenden Kontext gerückt werden muss. Bachmann beschreibt ja eine typische Dogmatisierungs- bzw. Ausgrenzungsstrategie, derer sich Hayek bedient. Dabei ist die noch nicht mal sonderlich originell und auch heute weit verbreitet.
Tja, „zunächst“ aber deshalb, weil dann mal wieder ein „typischer“ Klartext kommt, der dem Ganzen eine ganz andere Stoßrichtung gibt. Da geht es nicht mehr um die Dogmatisierungs- bzw. Ausgrenzungsstrategie, sondern darum, sich gänzlich nicht mehr um „alte weiße Männer“ kümmern zu müssen …
Ich hatte doch tatsächlich den Link zu dem Elgar-Band vergessen…:-( Danke für den Hinweis!
Dass ich das noch erleben durfte....
Wenn man wie Schumpeter an den linearen Fortschritt in der Ökonomik glaubt und sich sicher ist, dass Aschenputtels weiße Tauben die schlechten ins Gröpfchen und die guten ins Töpfchen befördern, dann sind die “alten Weisheiten” natürlich in den Töpfen (alias neue Lehrbücher) gespeichert.
Wenn aber die Linearitätsthese Schumpeters empirisch falsch ist, dann findet sich in den neuen Lehrbüchern so manche schlechte Linse und die guten Linsen wurden vergessen.
Ich folge eher der Auffassung Neumarks, der von der Zyklizität der “Linsen” überzeugt war. Bestimmte Ideen kehren im neuen Gewande wieder zurück. Zwei banale Beispiele sind (a) die Reinterpretation der Quantitätstheorie des Geldes durch Friedman, Brunner und Meltzer oder (b) das “Infant Industry” Argument von Hamilton und List, das in der New Trade Theory weiterentwickelt wurde.
Was eine ordentliche Theoriegeschichte natürlich nicht sein sollte, ist “arguing by name dropping”. Aber das kommt natürlich nur bei den dinner speeches auf Konferenzen vor.
Lieber Herr Caspari,
ich hätte noch ein weiteres Beispiel: In der modernen Macrofinance-Literatur kehren Autoren wie Tobin, Friedman und Fisher wieder, die in der Zwischenzeit auch weitgehend verschüttet waren. Ich habe eine kleine Sammlung von Lehrbüchern zur Geldtheorie und Geldpolitik in deutscher und englischer Sprache (viele ältere Werke kann man für ein paar Euro im Internet erwerben) und da sieht man, wie Lehrinhalte aus den siebziger und achtziger Jahren erst völlig verschwunden sind, um heute wieder in aktuellen Forschungsarbeiten aufzutauchen.
Und wenn ich mir eine kleine Anmerkung zu Ihren Beispielen erlauben darf: War Friedmans Reformulierung der Quantitätstheorie nicht gleichzeitig auch eine Reformulierung von Keynes’ Liquiditätspräferenztheorie?
Gruß
gb
@Gerald Braunberger
Man könnte m.E. argumentieren, Friedman habe die Liquiditätspräferenztheorie aufgegriffen, in dem er die Umlaufgeschwindigkeit u.a. auch vom Zinssatz abhängig erklärt hat; aber das hatte schon Marshall in MCC bedacht. Wie bei unserem Gespräch erwähnt, finden Sie das in Eprime Eshag, From Marshall to Keynes, Oxford 1963.
“Als im August 1845, so berichtet die Anekdote, Friedrich Wilhelm IV. , König von Preußen, die neuerrichtete Sternwarte der Universität in Bonn besuchte und den Astronomen mit den Worten begrüßte: “Na, Argelander, was gibt es Neues am Himmel?”, erhielt er zur Antwort: “Kennen Majestät schon das Alte?” Die kleine Geschichte beleuchtet ein Dilemma, dem zu allen Zeiten Lernende und Lehrende gleichermaßen gegenüberstehen. Es ist deshalb die Hauptaufgabe eines einführenden Lehrbuchs, das Alte im Hinblick auf das Neue zu vermitteln.” (Theo Meyer-Kukuck, Kernphysik, 5. Aufl., Springer)
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Sicher würde heute niemand mehr von ‘natürlichen Preisen’ reden, aber Kostenpreise in der Höhe von Deckungsbeiträgen (DB) sind in der BWL schon bedeutsam – sinkt der DB unter Null, ist zumindestens mittel- und langfristig ‘Schicht im Schacht’. Im Gegensatz zum Marktpreis bestimmen die Unternehmen den DB weitgehend autonom. Damit entscheiden sie eben auch, ob sie überhaupt am Marktgeschehen teilnehmen werden/können und ob sie überhaupt ein Angebot generieren werden/können. Das ist wohl keineswegs unwichtig – egal, ob es dem mainstream fremd ist
Da haben Sie völlig recht; das ist das betriebswirtschaftliche Korrelat der "natürlichen Preise"
Wenn die Marktpreise den ‘natürlichen Preisen’ entsprechen, dann garantiert das System der ‘natürlichen Freiheit’ (Smith, Ricardo), dass alle Produzenten am Markt überleben; d.h. die Preise garantieren die Reproduktion des Systems. Dies zu zeigen war für Smith wichtig, weil er damit die Angst der Menschen, ein Marktsystem würde zum Chaos und zur Verarmung führen, entgegentreten konnte. Der ‘natürliche Preis’ entsprach nämlich dem ‘gerechten Preis’ der Scholastiker und dieser sollte ja gerade garantieren, dass beide Seiten des Marktes dauerhaft überleben.
Ein Gleichgewichtspreis gemäß der modernen walrasianischen AGT erfüllt die Bedingung der Markträumung. Dass der markträumende Preise (vektor) nicht immer das Überleben der Marktteilnehmer garantiert, ist auch hinreichend bekannt (besonders bei steigenden Skalenerträgen). Die Fokussierung auf den Gleichgewichtspreis als Referenzgröße, hat dann ja auch die normative Bedeutung verschoben – von einer speziellen Ausprägung der Gerechtigkeit zur (Pareto) Effizienz.
[…] Fazit: Ein Ökonom für Ökonomen […]
Ein danke schön für solche Artikel der Theorie gewidmet ,Ihr eigens!
Unwiderstehlich für Theoretiker wie ich.
Machen Sie es gut,
Ihr
Ben Franken