Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Die unsichtbare Macht hinter der Finanzrevolution

Gewinnerosion und Niedrigzins: Die Finanzbranche erlebt einen dramatischen Wandel. Eine Ursache ist  immaterielles Kapital, das  Unternehmen in Sparer verwandelt.

Wer die dramatischen Veränderungen in der Finanzwelt ergründen will, muss auf Konzerne wie Google, Amazon, Microsoft oder Apple blicken. Zum Ende des ersten Quartals hat Apple Geldreserven über 257 Milliarden Dollar ausgewiesen. Apple ist zur Finanzierung seiner Projekte nicht auf Kapitaleinschüsse seiner Aktionäre oder auf die Beschaffung von Fremdkapital durch Bankkredite oder Anleihen angewiesen; seine Investitionen könnte Apple aus der Portokasse finanzieren.

Apple hat zwar Anleihen über mehr als 100 Milliarden Dollar ausgegeben, aber nur, um Steuern zu sparen. Das amerikanische Steuerrecht macht es für den Konzern günstiger, Aktienrückkäufe oder Unternehmenskäufe in den Vereinigten Staaten durch die Ausgabe von Anleihen zu finanzieren, als die überwiegend im Ausland gehaltenen Geldreserven in die Heimat zu holen. Daher hatte auch Microsoft im vergangenen Jahr Anleihen über 20 Milliarden Dollar zur Finanzierung des Kaufs von Linkedin ausgegeben, obgleich Microsofts Geldreserven mehr als 100 Milliarden Dollar betrugen. An Geld mangelt es wahrlich nicht.

Apple und Microsoft stehen für einen mächtigen Trend: Mit der digitalen Revolution verändern sich die finanziellen Bedürfnisse zahlreicher Unternehmen, was erhebliche Rückwirkungen auf die Finanzwelt und die dort gezahlten Preise hat. Nirgendwo lässt sich dies besser beobachten als in den Vereinigten Staaten. Während die Bedeutung der Investitionen in Sachkapital wie Fabriken, Maschinen und andere materielle Ausrüstungsgüter im Laufe der Zeit nachlässt, nimmt die Bedeutung von Investitionen in immaterielles Kapital zu. Etwa um die Jahrtausendwende haben in den Vereinigten Staaten die Investitionen in immaterielles Kapital die Investitionen in Sachkapital überschritten. Die Industriegesellschaft verwandelt sich in eine Wissensgesellschaft.

Was zählt zum immateriellen Kapital? Fachleute rechnen dazu Wissenskapital, Organisationskapital und Informationskapital. Wissenskapital beinhaltet Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Organisationskapital Ausgaben unter anderem für Markenpflege, Weiterbildung des Personals oder Aufträge an Beratungsunternehmen. Zum Informationskapital werden Investitionen in Software, Datenbanken und andere IT-Produkte gezählt.

Was sind die Folgen für die Finanzbranche? Die Zunahme immateriellen Kapitals relativiert die Bedeutung der Unternehmenskredite für die Banken. Denn die Bildung immateriellen Kapitals erfordert weniger Kredit als zum Beispiel der Bau und die Ausrüstung einer großen Fabrik. Und dort, wo Finanzierungsbedarf entsteht, kommen Bankkredite kaum in Frage, da sich immaterielles Kapital nur selten als Kreditsicherheit eignet und da sich seine Rendite schwer schätzen lässt. Immaterielles Kapital entsteht überwiegend durch die Beschäftigung hoch qualifizierter Menschen, und eine Möglichkeit von deren „Finanzierung“ besteht darin, sie mit Aktien des eigenen Unternehmens an ihrem Erfolg zu beteiligen. Dafür braucht man keine Bank.

Doch die Banken reduzieren nicht einfach ihr Geschäft, weil sie weniger Kredite an Unternehmen vergeben. Statt dessen suchen sie andere Geschäfte auszubauen. Ein Blick in amerikanische Bilanzen zeigt, wie die Banken den Rückgang an Unternehmenskrediten durch eine größere Zahl von Immobilienkrediten und Käufe von Wertpapieren mit zumeist guter Bonität, aber auch von Aktien, ersetzt haben. Dies gilt aber auch anderswo: In den Industrienationen übertrifft seit dem Jahre 1980 das Wachstum der Immobilienkredite das Wachstum der Kredite an Unternehmen. „Das Kerngeschäft vieler Banken in Industrienationen ähnelt heute einem Immobilienfonds“, schreiben die Ökonomen Òscar Jordá, Moritz Schularick und Alan Taylor. „Sie leihen sich kurzfristig Geld von Kunden und an Kapitalmärkten und investieren es langfristig in den Immobilienmarkt.“

Der Zusammenhang zwischen der digitalen Revolution und der vor der Krise allzu großzügigen Vergabe von Immobilienkrediten bei geringem Eigenkapital vieler Banken ist in zahlreichen Analysen der Finanzkrise nicht gesehen worden. Auch liefert die digitale Revolution eine Erklärung für die starke Nachfrage nach sicheren Wertpapieren in den vergangenen Jahrzehnten, die deren Rendite kräftig sinken ließ.

Die wachsende Bedeutung immateriellen Kapitals bietet zudem eine Erklärung für die auffällige Zunahme des Finanzvermögens amerikanischer Unternehmen. Apple ist auch hier nur ein Beispiel unter vielen. In den Jahren nach der Finanzkrise mag hohe wirtschaftliche Unsicherheit Unternehmen bewogen haben, aus Vorsicht ihre liquiden Finanzvermögen auszubauen. Zudem dürften die Rezession des Jahres 2009 und der zögerliche Aufschwung seitdem das Interesse an Investitionen in Sachkapital wie Maschinen und Anlagen gedämpft haben.

Aber die Krise reicht nicht als alleinige Erklärung hoher Finanzvermögen, denn der Trend begann früher: Zwischen 1970 und 2010 ist der Anteil liquiden Finanzvermögens an den Bilanzen amerikanischer Unternehmen von 8 auf 22 Prozent gestiegen. Dieser Aufbau lässt sich vor allem in Unternehmen mit hohen Ausgaben für Forschung und Entwicklung zeigen: Dies stützt die These, dass die Bildung immateriellen Kapitals die Haltung hoher Finanzvermögen begünstigt, weil Ausgaben für Forschung und Entwicklung eher mit eigenem Geld als mit Bankkrediten finanziert werden müssen.

Das Wachstum der Finanzvermögen in Unternehmen erweist sich als ein Treiber der Verwaltung kurzfristiger wie langfristiger Gelder durch das Finanzgewerbe, an dem neben spezialisierten Anbietern immer mehr Banken teilhaben wollen. So hat die Anbindung der ehemals selbständigen Sparte Kapitalmarkt an die Sparte Unternehmenskunden in der Commerzbank ebenso einen strategischen Sinn wie die Herausstellung des bisher eher diskreten Geschäftsbereich „Transaktionsbank“ durch John Cryan, den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank. Denn in der „Transaktionsbank“ befindet sich unter anderem die Verwaltung kurzfristiger Gelder von Unternehmen.

Da Unternehmen häufig Großkunden mit günstigen Konditionen sind, nehmen so zwar die Vermögensverwaltern angebotenen Gelder zu, aber gleichzeitig leiden die Verwalter unter einem Druck auf ihre Gewinnmarge. Insoweit trägt die digitale Revolution über die wachsenden Finanzvermögen von Unternehmen auch zur Bildung größerer Geschäftseinheiten im Finanzgewerbe bei.

Woher kommen diese Finanzvermögen? Ihre Bildung wird begünstigt durch einen dritten Trend (hier und hier), zu dem die digitale Revolution beiträgt und der erhebliche Folgen auch für das Zinsniveau besitzt: Nicht nur in den Vereinigten Staaten sind die Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten die Ersparnisse gestiegen, wobei als Ersparnis der Unternehmen die einbehaltenen Gewinne betrachtet werden. Seit dem Jahre 1980 ist in der Welt der Anteil der Unternehmensersparnisse an der Wirtschaftsleistung (BIP) von unter 10 auf rund 15 Prozent gestiegen.

Da sich die Unternehmen gleichzeitig mit teuren Investitionen in Sachvermögen zurückhalten, sind sie gesamtwirtschaftlich mittlerweile Netto-Sparer (sie sparen mehr als sie investieren) geworden – was im Gegensatz zu alten Lehrbüchern steht, in denen die privaten Haushalte netto sparen und die Unternehmen netto investieren. Die neue Rolle der Unternehmen als Netto-Sparer drückt den Zins und damit auf die Gewinnmöglichkeiten der Banken. Gelegentlich sagen Banker und Versicherer, der Zins wäre heute so niedrig wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Das hängt auch damit zusammen, dass die Unternehmen – abgesehen von Kriegszeiten und schweren Wirtschaftskrisen – erstmals mehr sparen als investieren.

 

Die digitale Revolution ist nur ein Grund für das Wachstum der Ersparnisse von Unternehmen, aber er ist ein sehr wichtiger. Denn in vielen Unternehmen – Apple kann wiederum als Beispiel dienen – sind die Gewinne in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gestiegen, aber das Wachstum der Dividenden hat mit dem Gewinnwachstum selten Schritt gehalten. Daher versuchen seit ein paar Jahren aktivistische Aktionäre amerikanische Unternehmen mit großen Finanzvermögen zu hohen Sonderausschüttungen oder zu Aktienrückkäufen zu veranlassen.

Fügt man die einzelnen Effekte wie Mosaiksteine zusammen, entsteht das Bild einer wachsenden Fragilität der Finanzbranche: Der Trend weg von der gut besicherten Sachinvestition zur Bildung immateriellen Kapitals und die Verwandlung der Unternehmen in Netto-Sparer drücken merklich auf den Zins. Der niedrige Zins treibt Vermögenspreise und erleichtert es Banken, Ersatzgeschäfte in der Immobilienfinanzierung zu suchen, während die Banken wegen der niedrigen Zinsmargen einen Anreiz haben, wenig Eigenkapital zu unterhalten. Die Vermögensverwaltung als Alternative zum traditionellen Zinsgeschäft der Banken erfordert zwar nicht viel Eigenkapital, aber sie verspricht nur wenigen Teilnehmern attraktive Renditen. Das Ergebnis ist ein latent fragiles, zu größeren Einheiten tendierendes Finanzsystem. Und da die digitale Revolution weiter geht, wird der ohnehin starke Veränderungsdruck im Finanzgewerbe weiter zunehmen. Dafür müssen die Google & Co. gar nicht einmal selbst eine Banklizenz beantragen.