Kritiker des ökonomischen Mainstreams werfen diesem eine weltfremde Geldangebotstheorie vor. Ob sie wissen, welche Theorie im Mainstream seit Jahrzehnten gelehrt worden ist? Eine Spurensuche.
Im deutschen Sprachraum ist vor rund vier Jahrzehnten eine als Habilitationsschrift eingereichte Monografie erschienen, die den damaligen Stand des Wissens präzise zusammenfasste und die deutschsprachige Lehrbuchliteratur der nachfolgenden Jahrzehnte stark beeinflusst hat. Das Buch stammte von dem früheren Osnabrücker Professor Manfred Neldner und heißt: “Die Bestimmungsgründe des volkswirtschaftlichen Geldangebots”. In Deutschland war Neldner seinerzeit die unbestrittene Autorität auf dem Gebiet der Geldangebotstheorie.
Der Geldmultiplikator
In seinem Buch ging er vom angestaubten Standardmodell aus, das sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, aber durch das 1920 erschienene Buch “Bank Credit” des amerikanischen Ökonomen Chester Phillips an Popularität gewann und das erstaunlicherweise von Heterodoxen noch heute als das Referenzmodell des Mainstreams bezeichnet wird.
In diesem Modell errechnet sich aus der Zentralbankgeldmenge ein fester Multiplikator, der angibt, wie groß die von Geschäftsbanken durch Kreditvergabe geschöpfte Menge an Buchgeld werden kann. Im Grunde genommen bestimmt hier die Zentralbank die Geldschöpfung in der Wirtschaft und sie tut dies auf eine sehr mechanische Art und Weise.
Aber dieses Modell war schon sehr früh aus theoretischen wie aus praktischen Gründen auch im Mainstream obsolet – wie Neldner angibt, wurde das simple Modell seit Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts als Beschreibung der Realität als unzureichend erkannt.
Warum fiel das mechanistische Multiplikatormodell schon vor langer Zeit in Ungnade? Neldner bemerkte: “Betrachtet man die Geldschöpfungslehre vor dem Hintergrund eines der bekannten volkswirtschaftlichen Gesamtmodelle…, so fällt zunächst auf, dass sie keinen der das Geldangebot bzw. seine Veränderungen bestimmenden Faktoren in irgendeiner Weise funktional mit den übrigen Systemvariablen zu verknüpfen sucht. Vielmehr geht sie grundsätzlich davon aus, dass alle unmittelbaren Determinanten des Geldangebots systemexogen sind und damit ihrerseits weder vom Nominaleinkommen bzw. seinen Komponenten Preisniveau und Output noch von der Höhe der Zinsen, des Geldlohns oder der Beschäftigung abhängen.”
Was hier im Stil der siebziger Jahre verfasst wurde, ist etwas, was sich die Buchhaltungsfreaks unserer Tage hinter ihre Ohren schreiben sollten: Ökonomische Analysen finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern müssen menschliches Handeln erfassen und dazu bedarf es mehr als starrer Multiplikatoren oder unschuldiger T-Konten, die mit Zahlen vollgemalt werden. Das alte Standardmodell wurde und wird – wie Rüdiger Bachmann in FAZIT erläutert hat – aus didaktischen Gründen Anfängern immer noch beigebracht. Aber dort endet die Geschichte nicht.
Denn mit Blick auf die Determinanten menschlichen Handelns ist das Standardmodell ärmlich, wie schon damals Neldner feststellte: “Soweit die Geldschöpfungslehre überhaupt mit Verhaltenshypothesen arbeitet, handelt es sich um einige stark vereinfachende Annahmen über die Nachfrage des Publikums und der Banken nach finanziellen Vermögensobjekten.”
An dieser Stelle wird deutlich, wie völlig abwegig die Bezeichnung der simplen Multiplikatoranalyse als “neoklassisch” ist. Einerseits werfen Heterodoxe der Neoklassik häufig ihre Mikrofundierung makroökonomischer Analysen vor. Dagegen entbehrt das Multiplikatormodell jeder Mikrofundierung.
Der Multiplikator im Lehrbuch
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Lehrbücher in Deutschland schon früher über das simple Multiplikatormodell hinausgegangen sind. Viele Studentengenerationen haben mit dieser Literatur gearbeitet. Eine kleine Auswahl soll folgen:
- Otmar Issing: Einführung in die Geldtheorie. 11. Auflage (1998)
“Nach der Darstellung des vorangehenden Abschnittes scheint sich die Bestimmung der Geldmenge auf ein rein arithmetisches Problem zu reduzieren: Die Notenbank entscheidet über die Höhe des Basisgeldes, die gesamte Geldmenge errechnet sich als Produkt aus Basisgeld und dem jeweiligen Geldmultiplikator….Wie man leicht erkennen kann, verbergen sich hinter den als konstant unterstellten Quoten und übrigen Voraussetzungen des älteren Multiplikatoransatzes einfache Annahmen über das Verhalten von Geschäftsbanken und Nichtbanken. Die moderne Geldangebotstheorie betrachtet diese Daten als erklärungsbedürftige Variable; sie versucht, die Determinanten des Verhaltens der am Geldangebotsprozess Beteiligten zu analysieren…” (Dies unter anderem für jene “Spezialisten” in der Blogosphäre, die meinen, bei der Bundesbank habe man dem simplen Multiplikatormodell gehuldigt.)
2. Wolfgang Gebauer: Geld und Währung. 2. Auflage (2004)
“In Anlehnung an ältere Literaturbeiträge wird der Prozess einer multiplen Geldschöpfung formal aus Bilanzrelationen und vorgegebenen konstanten Koeffizienten.. abgeleitet…. Neuere Arbeiten kritisieren zu Recht, dass der Multiplikator-Ansatz die relevanten finanziellen Portfoliodispositionen und die dahinter stehenden Verhaltensweisen eher verhüllt als erklärt.. Zunehmend gibt man daher die Annahme konstanter Koeffizienten auf und versucht, das Portfolioverhalten der beteiligten Akteure theoretisch zu modellieren und empirisch zu schätzen…So trivial diese Feststellungen als einfache Beschreibungen unseres Alltagswissens klingen, so grundlegend ist ihre theoretische Bedeutung: Die Geldtheorie muss bei einem Versuch, das Geldangebot zu systematisch zu erklären, immer auch die Geldnachfrage explizit einbeziehen!”
3. Wilfried Fuhrmann: Geld und Kredit. 2. Auflage (1994)
“Der Übergang von der Erklärung des Prozesses der Geld- und Kreditschöpfung zum gesamtwirtschaftlichen Geld- und Kreditangebot entspricht dem Übergang von einer mechanistischen Betrachtungsweise aufgrund von ‘Tautologien’ zu einem auf dem Optimierungsverhalten aller beteiligten Wirtschaftssubjekte basierenden Ansatz. Entsprechend ist das Optimierungsverhalten der einzelnen Bank zu erklären bzw. eine mikroökonomische Fundierung notwendig.”
4. Hans-Joachim Jarchow: Theorie und Politik des Geldes. I. Geldtheorie. 9. Auflage (1993)
“Eine Schwäche der im vorhergehenden Abschnitt durchgeführten Analyse des monetären Bereichs ist darin zu sehen, dass das Geldangebot und damit auch die Geldmenge als exogen fixierte Größen angesehen werden. Unser Ziel ist es deshalb, die Geldmenge als endogene, d.h., aus dem Modell heraus bestimmte Variable darzustellen und dabei insbesondere den für die Geldschöpfung wichtigen Kreditgewährungsprozess der Geschäftsbanken sowie die geldpolitischen Aktivitäten der Zentralbank zu berücksichtigen… Das Kreditangebot wird damit aus einer rentabilitätsorientierten Verhaltensweise der Geschäftsbanken abgeleitet und damit auf verschiedene Weise von verschiedenen Zinsen abhängig. Da mit jeder Kreditgewährung Geld zur Verfügung gestellt wird, impliziert jedes Kreditangebot auch ein entsprechendes Geldangebot.”
5. Manfred Borchert: Geld und Kredit. 7. Auflage (2001)
“Die traditionelle Multiplikatortheorie hat das Verhalten des Publikums kaum integriert… Neuere Ansätze analysieren daher die Portfolioentscheidungen der Nichtbanken und deren Determinanten sowie ihre Nachfrage nach Bankkrediten.”
6. Duwendag/Ketterer/Kösters/Pohl/Simmert: Geldtheorie und Geldpolitik. 4. Auflage (1993)
“Die neuen geldangebotstheoretischen Ansätze gehen ab von einer ‘mechanistischen’ Analyse der Zusammenhänge zwischen dem von der Zentralbank geschaffenen Reservegeld (Zentralbankgeld) und dem Geldangebot der Banken. Statt dessen wird das Geldangebot bzw. Kreditangebot der Banken durch das Zusammenspiel der Verhaltensweisen von Zentralbank, Banken und Publikum erklärt… In der neueren Geld- und Kredittheorie geht man davon aus, dass das Verhalten der Banken durch Rentabilitäts-, Liquiditäts- und Sicherheitsüberlegungen bestimmt wird. Entsprechend diesen Überlegungen versuchen die Banken in Abhängigkeit von der Struktur der Zinssätze eine optimale Struktur ihrer Aktiva und – soweit möglich – Passiva zu realisieren.”
7. Peter Spahn: Geldpolitik. 3. Auflage (2012)
“Die mechanistische Theorie des Geldschöpfungsmultiplikators ist aufgrund ihrer vereinfachenden Annahmen zu kritisieren. So bleiben Zinseffekte auf allem Marktseiten ausgespart. Vor allem aber erweckt der Ansatz den falschen Eindruck, als müsse einer Kreditexpansion stets eine höhere Geldmengenvorgabe seitens der Zentralbank vorangehen. Tasächlich sind aber oft die Geschäftsbanken in der Führungsrolle. Sie wählen solide und profitabel erscheinende Kreditprojekte aus und versuchen dann, die im Zuge des gesamten Bankgeschäfts anfallenden Bargeldabforderungen und Mindestreserveverpflichtungen durch eine nachträgliche Refinanzierung insbesondere bei der Zentralbank abzudecken.”
Der Nachweis, dass das simple und mechanistische Multiplikatormodell, in dem die Zentralbank die Geldversorgung durch die Geschäftsbanken starr steuert, schon seit Jahrzehnten in der deutschen Lehrbuchliteratur obsolet war, soll für heute genügen. Er belegt die Irrelevanz von vielem, was in den vergangenen Jahren in der deutschen Blogosphäre großsprecherisch als Verkündung neuer Weisheiten präsentiert worden ist. Ebenso lässt sich zeigen, dass der berühmte Aufsatz der Bundesbank in ihrem April-Monatsbericht keineswegs eine “Revolution” darstellt – da steht, was die Bundesbank schon früher geschrieben hatte.
Mit der Frage, wie eine moderne Geldangebotstheorie aussieht, befassen wir uns in den kommenden Beiträgen.