Mit Senkungen von Leitzinsen versuchen Notenbanken, zu niedrige Inflationsraten und eine zu schwache Konjunktur zu bekämpfen. Aber Zinssenkungen können auch die Gesundheit von Banken und damit die Konjunktur in Gefahr bringen. Es muss einen Zins geben, der ohne gesamtwirtschaftliche Kosten nicht mehr unterschritten werden kann: Das ist der Umkehrzins. Er ist von einer ganz überragenden Bedeutung.
Seit wenigen Jahren sorgt in der Fachwelt eine Arbeit der Princeton-Ökonomen Markus Brunnermeier und Yann Koby für Furore. Sie befasst sich mit der Frage, wie sich aus ökonomischer Sicht die Zinsuntergrenze einer Volkswirtschaft bestimmen lässt. Dieses Thema ist spätestens seit der Zeit von Niedrig- und Negativzins ganz oben auf der Agenda, aber nicht Weniges, was darüber in der Finanzbranche und von Ökonomen bisher zu hören war, ist, um einen Ausdruck des Nobelpreisträgers Robert Lucas zu gebrauchen, kaum mehr als “Bilder und Geschwätz”. Die Arbeit von Brunnermeier/Koby wurde schon international von Ökonomen und Geldpolitikern diskutiert, als sie nur als Fragment vorlag. Jetzt hat Brunnermeier die komplette Arbeit auf einer Konferenz in Washington präsentiert.
Der Umkehrzins
Die Studie ist von erheblicher Bedeutung nicht nur für das Verständnis von Geldpolitik und der Bedeutung von Zinsänderungen für die Stabilität des Finanzsystems. Die Arbeit beinhaltet wichtige Schlussfolgerungen für die Wechselwirkungen von Geldpolitik und Bankenregulierung sowie für die optimale Reihenfolge des Einsatzes geldpolitischer Instrumente in einer Krise.
Als “Umkehrzins” (reversal interest rate) wird ein Zins bezeichnet, bei dessen Unterschreiten die Geldpolitik nicht mehr expansiv wirkt, sondern eine Rezession begünstigt. Dieser Zins kann im Prinzip positiv oder negativ oder Null sein. “Wichtig ist, der Umkehrzins beträgt nicht (notwendigerweise) Null”, schreiben Brunnermeier und Koby. “Anders als manche Kommentatoren behaupten, sind Negativzinsen nichts fundamental Anderes. Wenn in unserem Modell der Umkehrzins 1 Prozent beträgt, wirkt eine Zinssenkung von 1 auf 0,9 Prozent bereits restriktiv. Wenn andererseits der Umkehrzins minus 1 Prozent beträgt, kann man den Zins bis auf dieses Niveau senken.”
Beginnen wir mit der Frage, was im Falle einer Senkung des kurzfristigen Leitzinses in Banken geschieht. Brunnermeier/Koby unterscheiden drei Effekte:
- Banken, die langfristige sichere Anlagen durch kurzfristige Einlagen refinanzieren, profitieren von der Leitzinssenkung, da sich ihre Rentabilität und ihr Eigenkapital verbessern. Brunnermeier bezeichnet dieses Effekt einer Leitzinssenkungen als “heimliche Rekapitalisierung” von Banken. Die Erhöhung des Eigenkapitals lockert die regulatorischen und wirtschaftlichen Grenzen der Banken, die ihre Geschäfte jetzt ausweiten könnten.
- Dem steht ein negativer Effekt entgegen, denn eine Leitzinssenkung kann zu einer geringeren Zinsmarge der Banken führen. (Die Zinsmarge errechnet sich aus der Differenz zwischen Kredit- und Einlagenzins.) In welchem Maße dies geschieht, hängt wesentlich von der Marktmacht der Banken ab; also ihrer Fähigkeit, Kredit- und Einlagenzinsen ohne Rücksicht auf den Wettbewerb festzulegen. Brunnermeier/Koby nehmen an, dass eine Leitzinssenkung die Banken veranlasst, ihr Wachstum der Kreditvergabe einzuschränken, was bedeutet, dass auch ihre Einlagen langsamer wachsen. Der Effekt der Leitzinssenkung auf das Ergebnis der Banken im Zinsgeschäft ist negativ, aber das konkrete Ausmaß hängt von vielerlei ab, zum Beispiel davon, in welchem Maße sich Banken gegen Zinsänderungsrisiken absichern.
- Wir haben eine positive Wirkung einer Leitzinssenkung durch die “heimliche Rekapitalisierung” der Banken, aber einen negativen Effekt auf das Zinsgeschäft der Banken. Abhängig davon, ob der Saldo positiv oder negativ ist, werden die Banken ihr Geschäft entweder ausweiten oder beschränken. Wird der Gesamteffekt negativ, schrumpft das Eigenkapital der Banken und sie können – anders als von der Geldpolitik gewünscht – auf die Zinssenkung nicht mit einer Zunahme der Kreditvergabe reagieren. Man erkennt, dass der “Umkehrzins” jener ist, bei der die positiven Wirkungen geringer werden als die negativen und der Gesamteffekt der Zinssenkung negativ wird.
Determinanten des Umkehrzinses
Was heißt das für die Höhe des Umkehrzinses in einer Wirtschaft? Seine Höhe ist nicht in Stein gemeißelt, sondern hängt von vielerlei Einflüssen ab. Dazu zählen unter anderem:
- Die Struktur des Bankgeschäfts: Je höher der Anteil langfristig verzinster Aktiva wie Anleihen und Kredite ist, umso stärker fällt die “heimliche Rekapitalisierung” im Falle einer Leitzinssenkung aus und umso niedriger ist der Umkehrzins.
- Die Regulierung der Banken: Je strenger die Regeln sind, umso höher liegt der Umkehrzins. Das bedeutet unter anderem, dass eine Verschärfung der Regulierung in einer Krise die Wirksamkeit der Geldpolitik begrenzt.
- Die Marktmacht der Banken: Je geringer die Marktmacht der Banken ist, umso schneller müssen sie auf eine Zinssenkung der Zentralbank reagieren und umso stärker wird ihr Zinsgeschäft betroffen. Daraus folgt: Je geringer die Marktmacht, umso höher liegt der Umkehrzins. Unter dem Aspekt der Marktmacht behandeln Brunnermeier/Koby auch die Bedeutung des Bargelds. Je stärker Bankkunden Einlagen durch Bargeld ersetzen, umso stärker leidet das Zinsgeschäft der Banken.
Optimale Geldpolitik
Aus diesen Überlegungen leiten Brunnermeier/Koby eine optimale Sequenz der Geldpolitik in einer schweren Krise mit Blick auf die Gesundheit der Banken ab. Man sieht, dass die EZB – ob langfristig geplant (was unwahrscheinlich ist) oder ungeplant (was wahrscheinlicher ist) – in den vergangenen Jahren in etwa diese Sequenz angewandt hat.
- Um die positiven Wirkung einer “heimlichen Rekapitalisierung” der Banken zu erhöhen, erscheint es aus der Sicht der Geldpolitik sinnvoll, in einer Krise mit langfristigen Geschäften zu beginnen, die es den Banken gestatten, mit zusätzlichem Zentralbankgeld langfristig verzinste sichere Anlagen zu erwerben. Das hatte die EZB 2011/2012 mit der sogenannten “Dicken Bertha” getan. Das senkt den Umkehrzins.
- In einem zweiten Schritt nutzt die Geldpolitik den Spielraum, um den kurzfristigen Leitzins zu senken. Das hatte die EZB anschließend getan, wobei sie den Zinssatz für Einlagen der Banken bei ihr bis auf minus 0,40 Prozent, also in negatives Territorium, zurückführte. (Die EZB war nicht der Pionier, die erste Zentralbank, die einen negativen Leitzins einführte war die Nationalbank in Dänemark gewesen.)
- In einem dritten Schritt – falls er notwendig ist – kann die Zentralbank ein Anleihenkaufprogramm beschließen. Das erlaubt es den Banken, ihre zuvor erworbenen langfristigen Anleihen mit Kursgewinnen (sofern das Kaufprogramm wirkt) an die Zentralbank zu verkaufen. Dank der realisierten Kursgewinne findet nun die “heimliche Rekapitalisierung” statt. Als Gegenwert der Anleihen werden den Banken Guthaben bei der Zentralbank gutgeschrieben, für die sie bei Bedarf sichere Anleihen mit kurzen Laufzeiten erwerben.
Im Interesse eines möglichst großen Handlungsspielraums der Geldpolitik ist es wichtig, die richtige Reihenfolge einzuhalten. Wenn die Zentralbank statt dessen vor den Zinssenkungen mit Anleihekäufen beginnt, fällt die “heimliche Rekapitalisierung” geringer aus und der Umkehrzins läge höher als im anderen Fall.
Eine Simulation
Nachdem wir Einiges über grundlegende Einflüsse auf den Umkehrzins und seine Bedeutung kennengelernt haben, stellt sich die Frage: Wo liegt er denn? Brunnermeier/Koby haben eine Wirtschaft in ein makroökonomisches Modell gepresst und ein paar Simulationen vorgenommen, die aber allenfalls als grobe Annäherung verstanden werden sollen.
Demnach könnte ein solcher Umkehrzins in diesem Modell in etwa bei minus 1 Prozent liegen, aber dies ist kein fester Wert, da er zum Beispiel durch Regulierungen der Finanzbranche und durch die Wahl der geldpolitischen Instrumente beeinflusst werden kann. Auch bleiben Effekte sinkender Zinsen auf die Kreditqualität und damit der Einfluss von Wertberichtigungen der Banken auf ihre Gewinne unberücksichtigt. Aus der Arbeit von Brunnermeier/Koby ist nicht die Schlussfolgerung abzuleiten, die EZB könne ihren Einlagenzins bis minus 1 Prozent senken, ohne dass dies nachteilige Folgen besäße. Für ein solches Urteil brauchte man ein sehr viel detaillierteres Modell.
Wie Autoren schreiben: Hier ist noch viel Platz für weitere Arbeiten. Aber ein möglicherweise sehr wichtiger Anfang, sich dem Thema Zinsuntergrenze ökonomisch – will sagen: ohne Schaum vor dem Mund oder apokalyptisch – anzunähern, ist gemacht.