Fazit – das Wirtschaftsblog

Fazit - das Wirtschaftsblog

Für alle, die’s genau wissen wollen: In diesem Blog blicken wir tiefer in Börsen und andere Märkte - meist mit wissenschaftlicher Hilfe

Vermächtnis eines Stars

Die Wirtschaftswissenschaften haben eines ihrer größten Talente verloren: Im Alter von nur 41 Jahren ist am vergangenen Donnerstag der französische Ökonom Emmanuel Farhi völlig unerwartet verstorben. Farhi hatte innerhalb von 15 Jahren auf unterschiedlichen Gebieten der Volkswirtschaftslehre tiefe Spuren hinterlassen; nicht nur die Chefökonomin des Internationalen Währungsfonds, Gita Gopinath, sah in ihm einen „künftigen Nobelpreisträger“.

Emmanuel Farhi war Professor in Harvard und ein ausgesprochen fleißiger und belesener Wissenschaftler. Aus seinen zahlreichen Arbeiten können hier nur wenige betrachtet werden. Profitiert hat seine Vielseitigkeit sicherlich von seiner Unvoreingenommenheit. „Ich sehe meine Arbeit nicht in einer bestimmten Tradition“, sagte er einmal. „Ich suche Inspirationen aus unterschiedlichen Quellen und unterschiedlichen Traditionen.“

Sichere Kapitalanlagen, Zinsen und Besteuerung

Zusammen mit seinem Kollegen Ricardo Caballero hatte sich Farhi intensiv mit den wirtschaftlichen Folgen der seit langem beobachtbaren starken Nachfrage nach sicheren Kapitalanlagen befasst. Diese Nachfrage gilt als eine wichtige Ursache für den langfristigen Rückgang der Zinsen für sichere Kapitalanlagen. Caballero und Farhi haben die These aufgestellt, dass diese starke Nachfrage eine Rezession begünstigen kann, wenn der Zins auf Null fällt; dieses Phänomen bezeichneten sie als „Sicherheitsfalle“. Seines Erachtens seien die Vereinigten Staaten auf die Dauer mit der Rolle des wichtigsten Produzenten sicherer Kapitalanlagen überfordert, da sich ihr wirtschaftliches Gewicht in der Welt verringert, sagte Farhi in einem Interview. Wie nicht wenige französische Ökonomen war er an Fragen eines internationalen Währungssystems und der Rolle des Dollars als Weltwährung interessiert. „Es gibt hierzu heute wenige akademische Arbeiten“, sagte er im vergangenen Jahr. „Ich denke, das ist ein Fehler.“

Der Franzose warnte auch davor, dass eine Knappheit an sicheren Kapitalanlagen in Form von Staatsanleihen bonitätsstarker Länder Versuche begünstigen würde, private Kapitalanlagen als sicher zu betrachten, die sich im Nachhinein als unsicher herausstellen würden. Das Thema Finanzstabilität hatte Farhi sehr bewegt; hierzu hat er unter anderem mehrere Arbeiten mit dem Nobelpreisträger Jean Tirole veröffentlicht (zuletzt diese).

Die auch von deutschen Ökonomen diskutierte Frage, warum die Zinsen auf sichere Kapitalanlagen sinken, die Renditen auf Eigenkapital in den vergangenen Jahren aber weitgehend konstant geblieben sind, hat Farhi beschäftigt (zum Beispiel hier). „Es gibt eine Menge Vermutungen, was sich hinter diesem langfristigen Fall der Renditen für sichere Anlagen verbirgt“, sagte er. „Eine Sache, die ich für wichtig halte, aber manchmal in diesen Diskussionen übersehen wird, ist die Tatsache, dass nicht alle Ertragsraten parallel gesunken sind… Bei sicheren Kapitalanlagen spielt sich etwas Besonderes ab.“

Er sah in den Eigenkapitalrenditen in den Vereinigten Staaten auch einen wachsenden Anteil von Unternehmensgewinnen, die nicht aus wirtschaftlicher Leistung, sondern aus wachsender Marktmacht entstehen. Dieses in Amerika verbreitete Thema schwappt allmählich nach Europa über. Der Franzose war zudem Verfasser mehrerer Arbeiten zur Frage einer optimalen Besteuerung, wenn man die Annahme fallen lässt, dass sich Unternehmen und Private Haushalte immer völlig rational verhalten.

Fundamente einer neuen Makroökonomik

In den vergangenen Jahren wandte sich Farhi, der ursprünglich einmal Mathematiker werden wollte, der reinen ökonomischen Theorie zu, die er angesichts neuer mathematischer Verfahren und einer Vielzahl früher nicht verfügbarer Daten aus dem Wirtschaftsleben in vielerlei Hinsicht für nicht mehr zeitgemäß hielt. Zusammen mit seinem Kollegen David Baqaee verschrieb er sich einem weit in die Zukunft reichenden Forschungsprogramm, in dem er sich unter anderem mit der Frage befasste, ob die seit langem gebräuchlichen gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktionen überhaupt ein theoretisches Fundament besitzen. In diesen in Lehrbüchern verbreiteten Funktionen ergibt sich, vereinfacht ausgedrückt, die Herstellung von Gütern und Dienstleistungen durch die Kombination der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital unter Berücksichtigung der Produktivität.

Vor über einem halben Jahrhundert hatten Ökonomen der britischen Universität Cambridge in der sogenannten „Kapitalkontroverse“ gezeigt, dass diese Funktionen nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen verwendbar sind, was den ökonomischen Mainstream allerdings nicht sonderlich interessierte. „Cambridge (UK) hatte gewonnen, aber die Kontroverse war zu exotisch und zu kompliziert“, urteilte der Franzose im Rückblick. „Sie führte nirgendwo hin.“ Farhi, der sich intensiv auch mit Arbeiten heute vernachlässigter Altmeister befasst hat, und Baqaee zeigen, wie man sich auf dem Stand der Kenntnisse unserer Zeit mit diesem Thema in modernen Netzwerkökonomien fruchtbar beschäftigen kann.

Hinter dem Forschungsprogramm von Farhi und Baqaee, das Farhi als „Macro as explicitly aggregated Micro“ bezeichnete, verbergen sich grundlegende Fragen. Die alte makroökonomische Theorie hatte früh sehr eingehende, aber auch sehr unkritisch zusammengestellte Aggregate wie die den gesamtwirtschaftlichen Konsum, die gesamtwirtschaftlichen Investitionen oder den gesamtwirtschaftlichen Kapitalbestand verwendet und es wurden meist sehr einfache Annahmen über das Verhalten dieser Größen („Die Veränderungen der privaten Investitionen hängen vor allem von Veränderungen des Zinses ab“) getroffen.

Vor knapp einem halben Jahrhundert begann, vorangetragen vor allem durch Robert Lucas, die Kritik an simplen Aggregationen einzelwirtschaftlichen Verhaltens zu gesamtwirtschaftlichen Größen einzusetzen, die das Ende der alten Makro einläutete. Das nächste Problem bestand allerdings darin, dass die neue gesamtwirtschaftliche Analyse lange Zeit auf Modellen aufbaute, in denen ein repräsentatives Individuum im Zentrum stand.

Die Kritik an dieser neuerlichen Simplifizierung führte vor allem in der Behandlung von Konsumentscheidungen zur Berücksichtigung von mehr Heterogenität; nunmehr verhalten sich nicht alle Menschen in der Wirtschaft wie ein „repräsentatives Individuum“. Dieses Prinzip wollte Farhi noch stärker und noch grundlegender auf gesamtwirtschaftliche Modelle anwenden und dabei unter anderem hinterfragen, wie heute der Produktivitätsbegriff verwendet wird. „Davis Baqaee und ich haben eine neue Messung von Produktivität hergeleitet für den Fall, dass es keinen vollkommenen Wettbewerb gibt, sondern Marktmacht“, erläuterte Farhi.

Für moderne Netzwerkökonomien ist ein solcher Ansatz auch wegen der vielen Daten, die über Unternehmen vorliegen, sehr reizvoll, zumal Unternehmen sehr heterogen sind und Marktmacht zunehmend wieder zu einem Thema wird. Aber dieser Ansatz stellt auch hohe Anforderung an die Modellierung – schon alleine deshalb dürften viele Ökonomen mit solchen Themen überfordert sein.

Corona

Zuletzt war der Franzose an mehreren Arbeiten über die Corona-Krise beteiligt. In einer Arbeit für Brookings vertrat er die These, dass die Politik auf eine zweite Welle nicht mit einem zweiten Lockdown reagieren sollte, dessen wirtschaftliche Konsequenzen verheerend sein könnten. Die Autoren begnügen sich aber nicht mit einer Gesamtbetrachtung der amerikanischen Volkswirtschaft, sondern zerlegen sie in 66 verschiedene Branchen, die untersucht werden. Die Autoren empfehlen keineswegs, gar keine Maßnahmen gegen das Virus zu unternehmen; sie stellen aber vor allem auf Vorsichtsmaßnahmen im Privatleben ab, die eine Verbreitung des Virus verhindern sollen.

Stärker theoretisch ausgerichtet ist eine andere Arbeit, in der wiederum die amerikanische Volkswirtschaft mit dem Blick auf einzelne Zweige betrachtet wird und in der die Autoren interessante Simulationen anstellen. So leiten sie aus den virusbedingten Angebotsbeschränkungen ein Inflationspotential von immerhin 10 Prozentpunkten her, das allerdings durch die erheblichen Nachfragebeschränkungen neutralisiert wird. Interessant, wenn auch sicherlich kontrovers, fallen ihre Schlussfolgerungen für die optimale Wirtschaftspolitik aus. Denn eine Stimulierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ist nur etwa ein Drittel so wirksam wie in einer „normalen“ Rezession.

Farhis Leben

Emmanuel Farhi hatte in seiner Jugend mehrere Elitehochschulen in  Frankreich besucht, war dann aber in die Vereinigten Staaten gewechselt, wo er seine Doktorarbeit am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) schrieb und schon mit 31 Jahren eine Professur an der berühmten Harvard University erhielt. Er war auch in der Politikberatung tätig. Ebenso gehörte er einer deutsch-französischen Ökonomengruppe an, die vor wenigen Jahren Vorschläge zur Weiterentwicklung der Eurozone unterbreitet hatte.

Farhi war ein Ökonom, der sich der Entwicklung möglichst leistungsfähiger Modelle auf die Fahnen geschrieben hatte; seine Ideen bezog er aber nicht selten aus der Wirtschaftspraxis. Einem Studenten sagte er einmal: “Modelle sind wie Magie. Du möchtest den Leuten den Eindruck vermitteln, dass Du ein Kaninchen aus dem Hut zaubern kannst, aber Du möchtest sie nicht wissen lassen, wie Du es hinein tust. Du musst sie überraschen!” Auch versierte Ökonomen hat Farhi mit seinem Reichtum an Ideen immer wieder überrascht. Nachdem sich die Todesnachricht am Wochenende auf Twitter verbreitet hatte, herrschte dort große Betroffenheit. “RIP Emmanuel Farhi, ein Shooting Star. Super brillant, super nett, super bescheiden. Wir liebten Dich und hätten es häufiger sagen sollen”, schrieb Olivier Blanchard. Erik Berglof von der London School of Economics hielt fest: “Ein gewaltiger Verlust für das Fach – und für die Welt. Erdachte größer und mutiger als die meisten. Er hätte uns an neue Orte führen können – und vielleicht wird er das, wenn wir zu ihm aufschließen.”