Unweit des thüringischen Dorfes Teistungen, da, wo bis vor drei Jahrzehnten Deutschland von einem breiten Grenzstreifen durchtrennt wurde, steht heute ein Mahnmal. Sieben Namen sind darauf zu lesen, sieben Menschen, die ihren Fluchtversuch ins nahe Niedersachsen mit dem Leben bezahlen mussten. Wer den Ort heute besucht, dem wird unmittelbar in Erinnerung gerufen, wie brutal und schonungslos das DDR-Regime gegen seine eigenen Bürger vorgegangen ist und welches Leid diejenigen zu ertragen hatten, die sich der Diktatur nicht beugen wollten.
Funktionieren konnte das verbrecherische System nur, weil die anderen mitmachten. Im Jahr 1989 hatte die SED 2,3 Millionen Mitglieder, 500 000 weitere Bürger gehörten den Blockparteien an. Wer sich alldem verweigerte, hatte es gesellschaftlich und wirtschaftlich schwer. Spitzel schwärzten die Systemverweigerer an, Studium und beruflicher Aufstieg waren in vielen Fällen tabu.
Dann kam die von vielen langersehnte Freiheit und die Wende zur Marktwirtschaft. Beides stellte das Leben der DDR-Bürger auf den Kopf. Aber hat sich jenseits des Systemwechsels das Blatt innerhalb der früheren DDR tatsächlich gewendet? Konnten sich also diejenigen, die nicht zur Nomenklatura oder Stasi gehörten, im neuen System besser entfalten als Konformisten und Parteigänger? Max Deter, ein Ökonom der Bergischen Universität Wuppertal, hat das jetzt untersucht. In Kurzform lautet sein Ergebnis: Die Verlierer des Sozialismus sind die Gewinner im Kapitalismus.
Das ist eine überraschende Erkenntnis. Frühere Studien hatten nämlich eher darauf hingedeutet, dass die alten Eliten ihre Privilegien in die neue Zeit retten konnten. Eine in den späten neunziger Jahren veröffentlichte Untersuchung war beispielsweise zu dem Ergebnis gekommen, dass DDR-Bürger mit Telefonanschluss – ein Hinweis für die Elitenzugehörigkeit – auch später mehr verdienten. Ähnliche Muster erkannten Forscher in Tschechien und Russland. Die Wissenschaftler vermuteten, dass alte Netzwerke und Kontakte auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs funktionierten. Eine mögliche weitere Erklärung: Auch in sozialistischen Staaten haben Menschen mit besonderen Talenten und besonderem Ehrgeiz Karriere gemacht – beides zahlt sich auch in der Marktwirtschaft aus.
Um der Sache genauer auf den Grund zu gehen, wertete Ökonom Deter nun Daten des Soziooekonomischen Panels aus. Er konnte dabei auf Angaben von knapp 2300 Ostdeutschen zurückgreifen, die zwischen 1990 und 2018 immer wieder zu ihrer Haltung zur DDR, ihrer Lebenszufriedenheit und ihrer wirtschaftlichen Situation befragt worden waren.
Die früheren DDR-Bürger unterteilte der Ökonom in drei Gruppen: Wer Mitglied der SED war oder in besonders sensiblen Bereichen wie der Armee oder Polizei arbeitete, in denen es erfahrungsgemäß nur wenige Systemgegner gab, zählte er zur Elite. Rund ein Fünftel der Befragten fiel in diese Gruppe.
Die zweite, etwas größere Gruppe, bildeten die “Systemgegner”, die Kritiker und Opfer des Systems. Zu den Kritikern zählte der Ökonom die Demonstrationsteilnehmer der friedlichen Revolution sowie Menschen, die häufig “Wetten, dass..?” oder “Tagesschau”, also Westfernsehen, schauten. Als Opfer sortierte er all jene ein, die von der Stasi überwacht wurden oder einer der vom Regime unterdrückten Religionsgemeinschaften angehörten.
Alle anderen, die weder zur Elite noch zu den Gegnern zählten, sortierte der Ökonom in die dritte Gruppe ein, die “schweigende Mehrheit”. Wie die Daten zeigten, hatten diese Menschen, verglichen mit den anderen beiden Gruppen, eine eher unterdurchschnittliche Bildung.
Die Befragungsdaten zeigen eindeutig, wie unterschiedlich es diesen drei Gruppen nach der Wende ergangen ist. “Die Demonstrationsteilnehmer konnten ihre Lebenszufriedenheit demnach am stärksten steigern, während SED-Mitglieder den größten Rückgang verzeichneten”, heißt es in der Studie. Auf einer Skala von 0 bis 10 sei die Lebenszufriedenheit der Menschen mit Parteibuch nach dem Umschwung zum Kapitalismus um fast einen Punkt gesunken – was im Vergleich einem größeren Unglück entspricht, als den Arbeitsplatz zu verlieren. In der Gruppe der Systemgegner konnten hingegen diejenigen ihr Lebensglück am meisten steigern, die zu den Organisatoren der Protestbewegung zählten, in der Gruppe der schweigenden Mehrheit vor allem diejenigen, die innerlich auf Distanz zu Honecker und Co. gegangen waren und in den Umfragen von Fluchtgedanken sprachen.
Auch wirtschaftlich entwickelten sich die Gruppen seit der Wende sehr unterschiedlich. Ausgehend vom niedrigen Niveau in der DDR-Wirtschaft – das Pro-Kopf-Einkommen war zur Wendezeit nur etwa halb so hoch wie im Westen -, konnten zwar im Schnitt alle ihren Wohlstand deutlich steigern. Allerdings verloren überdurchschnittlich viele frühere SED-Mitglieder nach der Wiedervereinigung ihre Arbeitsplätze. “SED-Mitglieder haben verglichen zur Gesamtbevölkerung 30,8 Prozentpunkte mehr an Einkommen verloren”, schreibt Ökonom Deter.
Die Mitglieder der schweigenden Mehrheit und diejenigen, die Demonstrationen organisiert hatten, waren hingegen erfolgreicher auf dem Arbeitsmarkt und verdienten mehr. Interessanterweise profitierten aber nicht alle Oppositionellen. Wer von der Stasi überwacht wurde oder religiös war, schnitt später schlechter ab als der Durchschnittsbürger. “Das könnte mit der geringeren Arbeitserfahrung wegen der Diskriminierung in der DDR erklärt werden”, vermutet Deter.
Was erklärt nun das Muster, dass die Gewinner des Sozialismus zu den Verlierern im Kapitalismus wurden? Der Ökonom nennt zum einen relativ offenkundige Gründe. So sei früheren Parteikadern der Weg in den öffentlichen Dienst nach der Wende häufig versperrt geblieben, und auch viele private Arbeitgeber hätten sie gemieden. Deter findet aber auch Indizien dafür, dass andere, eher verborgene individuelle Eigenschaften wie die Risikofreude oder das Vertrauen in andere Menschen die Ergebnisse erklären. Risikoscheue seien beispielsweise eher der SED beigetreten. In der DDR war das hilfreich, in der freien Marktwirtschaft sind dagegen risikofreudigere Menschen erfolgreicher. Spiegelbildlich ist es mit dem Vertrauen: Wer sich anderen zu sehr öffnete, lief in der DDR Gefahr, ausspioniert zu werden. In marktwirtschaftlichen Systemen zeigen Studien hingegen, dass sich Vertrauen in andere auszahlt.
Am Ende der Studie bleibt ein positives Fazit der Forschers: Es sei wichtig, dass diejenigen, die in der DDR besonders diskriminiert wurden, später profitieren konnten. “Denn viele haben für ihre Freiheit im alten System unter sehr schwierigen Bedingungen gekämpft.”
Max Deter: Are the Losers of Communism the Winners of Capitalism? SOEP-Papers, August 2020